Die Typen zum Tanzen bringen

Kann man Schrift choreografieren? Tanzschritte tippen? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Der slowakische Typograf Peter Bil’ak zeigt, wie es geht – und spannt den Bogen von der Autorenschaft des Schriftgestalters bis zu Buchstaben als Bühnenbild. Mit einem kleinen Abstecher nach Bangalore. Peter Bil’ak, ansässig in Den Haag und Chef von Typotheque, nennt seinen Vortrag „Mehr Typografie?“ und löst damit nicht eben prickelnde Aufregung aus. Wieso mehr Typografie?! Ist angesichts der Überfülle an Fonts „mehr” nicht fast zwangsläufig weniger – weniger Übersicht, weniger Qualität, weniger Schönheit? Wie könnte hier mehr MEHR sein? Erst mal die Ruhe bewahren – und zuhören.


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Sanft bereitet Peter Bil’ak den Boden für seine Thesen und benennt drei große Veränderungen, die er (und mit ihm jeder, der mindestens seit fünf Jahren als Gestalter arbeitet) erfahren hat.

Shift 1“ umfasst für ihn den Wechsel vom Schwerpunkt Print zu Online-Gestaltung, von auftragsmotivierten zu selbst initiierten Projekten, und, wichtig, vom heutigen Schriftdesigner als jemandem, der neben dem Handwerk (der Kunst, dem Design – hier wählt er den Überbegriff „craft“) die Bereiche Sprache und Technologie abdeckt, oder zumindest berühren sollte. Das mit dem Berühren ist hier fast wörtlich zu verstehen. Doch dazu später mehr.

Noch ist das Publikum so ruhig wie Peter Bil’ak selbst. Noch bewegen wir uns in vertrauten Gefilden: Schriftgestalter (und Auftraggeber) interessieren sich nicht zwangsläufig für sprachliche Aspekte, Linguisten lässt die Gestaltung von Schrift völlig kalt. Die funktionalen und technologischen Aspekte immerhin werden stärker wahrgenommen und genutzt, sind für Designer oft genug aber auch Limitierung. Die große Mehrheit der Schriften – laut Peter Bil’ak 99 Prozent – ist nach wie vor für Drucksachen entworfen und keineswegs geeignet für die optimale Anwendung im Netz. Die digitale Anpassung ist mühsam und kann umgangen werden: indem man Schriften als eine Grundform entwirft, die modifiziert werden kann (in der Breite, der Höhe, der Stärke, mit barocken Elementen oder Renaissance-Attributen, mit Serifen und Schatten und Schnörkeln und … Hilfe!) – eine Art Gerüst also ohne feste Schnitte, Punktgrößen und Proportionen. Das bedeutet nicht nur mehr, sondern viel viel mehr Typografie. Tausende von Varianten. Der sichere Weg in die Wahllosigkeit? Abwarten.

Unter „Shift 2“ versteht Peter Bil’ak die neue, quasi multiple und alleinige Autorenschaft des Gestalters (type designer) auch als Herausgeber (publisher): die Verbindung, so sie denn gelingt, zwischen Sprache/Technologie/Handwerk einerseits und Akzeptanz/Distribution/Marketing. Der Vorteil, der darin liegt, dass eine Person den Gesamtprozess verantwortet, ist gleichzeitig ihr Nachteil: Wenn es an einer Stelle hakt, wird die gesamte Kette geschwächt, steht die Produktion der Schrift in Frage. Wir sind nachdenklich. Und freuen uns gleich darauf über besonders schöne Beispiele für das geglückte Zusammenspiel der Kräfte: Neben der Schriftentwicklung für Wörterbücher von Collins, die es für 200 Sprachen gibt, rettet Bil’ak indische Sprachen vor dem Aussterben.

Die Arbeit mit Wörterbüchern hat es für ihn bereits an den Tag gebracht: Jede Sprache hat ihre Berechtigung, verdient Dokumentation, verdient Wörterbucher. Warum sollte eine Sprache, die wenig Verbreitung hat, weniger berechtigt sein, typografisch korrekt umgesetzt zu werden? Für Bil’ak ist es im Gegenteil so, dass solche Sprachen – und Schriften! – erst recht in unser Blickfeld rücken sollten.

Die harten Fakten: Von den rund 7.000 heute weltweit gesprochenen Sprachen ist fast die Hälfte vom Aussterben bedroht, und zwar noch vor Ende unseres Jahrhunderts. Sie werden einfach immer weniger gesprochen. Das heißt, alle zwei Wochen fällt eine Sprache aus dem aktiven Sprachgebrauch heraus. Sie stirbt weg – bzw. sterben die letzten Menschen, die ihrer mächtig sind. Wen erinnert das nicht an die Rodung von tropischen Urwäldern oder das Aussterben seltener Tierarten? Schluck.

Was da an Schönheit und Fülle verloren geht. Ganz zu schweigen davon, Peter Bil’ak verweist sorgfältig darauf, dass der Verlust von Sprache Identitätsverlust und kulturelle Verarmung bedeutet. Was in Jahrhunderten, Jahrtausenden gewachsen ist, verschwindet einfach so.

Also hat er etwas unternommen. In Indien. Mit Partnern vor Ort gründete Peter Bil’ak die Indian Type Foundry (ITF). Von den 400 indischen Sprachen werden etwa 350 in absehbarer Zeit weggestorben sein. Die Entwicklung geht rasant voran; neben den neun offiziellen indischen Sprachen ist Englisch auf dem Vormarsch: als Voraussetzung für sozialen Aufstieg und für den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes.

Indien also. Kein besserer Ort um Sprache und Schrift zu retten. Doch wie macht man das? Nicht vom Design her denken, und schon gar nicht sich von den technischen Möglichkeiten limitieren lassen. Sondern überlegen, wie Sprache funktioniert. Die Technik darauf abstimmen, nicht umgekehrt. Um den Fedra Hindi Font zu entwickeln, hat Peter Bil’ak handschriftliche Textbeispiele aus diversen Regionen des Landes gesammelt. In Arbeit sind nun „kleinere“ indische Sprachen wie Bengalisch. Uns beschleicht das Gefühl: gerade noch rechtzeitig. Zum Glück macht der das.

Aktuell befasst sich Peter Bil’ak mit der Tulu-Sprache, genutzt von den Brahmanen (der höchsten indischen Kaste) in Bangalore, in der Region Karnataka. Tulu hat noch zwei Millionen aktive Sprecher. Längst gibt es Verluste zu vermelden: Durch die offiziell um 1840 eingeführte Amtssprache Kannada (ja, mit zwei „n”), die nicht genug Zeichen für die vielfältigen Tulu-Laute bereithielt. In Tulu gibt es noch keinerlei verbindliche oder umfassende schriftlichen Grundlagen als Vorlage für die Umsetzung in Unicode und Open Type. Hier fängt Schriftgestaltung bei Null an. Als erstes muss man die Sprache selbst verstehen – Bil’ak und seine Mitstreiter sind auf einem guten Weg.

In „Shift 3“ schließlich bringt Bil’ak „unberührbare“ digitale Fonts und greifbare Körperlichkeit zusammen. Seit acht Jahren arbeitet er mit einem befreundeten Choreografen und ex-Tänzer für das Niederländische Tanztheater. Die Verbindung zum Grafikdesign sieht er in der Artikulation von Ideen, der Aufmerksamkeit für das Publikum und die Inhalte, die man transportieren möchte: Es geht ganz einfach darum, die richtige Form zu finden.

Dafür arbeitet Bil’ak ganz unmittelbar mit den Menschen, der Musik, dem Licht. Das Besondere: Bühne und Requisite sind nicht losgelöste Attribute oder Hintergrund, sondern direkt mit den Tanzenden und ihren Bewegungen verbunden. Dafür schreibt er das Drehbuch (und zieht hier Parallelen zur Schrift- und Buchgestaltung), gibt Inhalte und mögliche Variablen vor. Konkret kann das bedeuten, dass die Tänzer Mikrophone am Herzen tragen und der Takt ihres Herzschlags als „Musik“ zu hören ist. Dass ihre Bewegungen je nach Intensität und Schnelligkeit die Farben auf dem Bühnenhintergrund steuern. Lichtstrahlen in Buchstabenform bilden das Mobiliar auf der Bühne. Oder die Schatten der Tanzenden machen sich durch eine kleine rhythmische Verzögerung in der Lichttechnik selbstständig, lösen sich vom tanzenden Körper und führen ein zeitlich versetztes Eigenleben. Immer geht es um ein flexibles System, das einen Rahmen, ein Gerüst bietet und Möglichkeiten eröffnet, Varianten erlaubt. Womit wir wieder bei der Schriftgestaltung wären …

Bil’ak wird noch bildhafter. Er hat seine Lieblingstänzerin die Buchstaben des Alphabets gymnastisch nachbilden lassen. Das ist nicht ganz neu, doch für ihn Ausgangspunkt einer weiteren Analogie: Wenn das eine füllige Tänzerin macht (die schwer zu finden war, wie er erzählt), werden die Körperbuchstaben fett, entsteht die gleiche Schrift in bold. Und ein Grundproblem der Schriftgestaltung wird sichtbar: Je bold – desto schwierig, die Form (einen bestimmten Buchstaben) auch in klein erkennbar zu machen.

Längst ist das Publikum gebannt. Freudiges Kichern und Staunen über die wunderschönen Tanz-, Typo-, Körperbilder. Die Ausgangsfrage nach mehr Typografie stellt sich so nicht mehr. Ja, mehr davon, bitte!

Und Bil’ak hat noch einen Trumpf im Ärmel: getanzte Buchstaben. Assoziationen in Richtung Eurythmie sind nicht verkehrt und greifen doch zu kurz. Er zeigt ein Projekt, umgesetzt als App, bei dem man Nachrichten eingeben kann, die von einem Tänzer in Bewegungen umgesetzt werden. Und zwar in seinem Tempo, unabhängig von der Schnelligkeit der Eingabe (hier ist es wieder, das Gerüst, der vorgegebene Rahmen) – so bekommt der Empfänger die Nachricht zu „lesen“. Oder vielmehr: vorgetanzt.

Kann man Sprache und Schrift begreifbarer machen?

www.peterbilak.com

www.typotheque.com

www.indiantypefoundry.com

Interview („I prefer to have a direct contact with the end-users“):

www.planet-typography.com/news/designer/bilak.html

Die Buchstabentänzerin im Fotostudio:

http://www.experimentadesign.pt/2009/blog/?p=551

 

1 Comment

  1. Pingback: Zu wenig Qualität

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Peter Biľak

Type Designer, Designer (The Hague)

Peter Biľak works in the field of editorial, graphic, and type design and teaches at the Royal Academy of Arts in The Hague. He is running Typotheque, the first foundry to bring webfonts to the market. Recently he started »Works That Work«, magazine of unexpected creativity that rethinks publishing practices. Photo: Mano Strauch