Der Designer-Poet

Pierre Di Sciullo tastet sich in broken English durch seinen Vortrag, spielt mündlich wie schriftlich mit Sprache, gewinnt sämtliche Charme-Punkte und beweist mit vier großartigen Projekten, dass man gutes Design letztlich nicht erklären muss.

(Foto: Gerhard Kassner)

Der Grafiker und Schriftgestalter arbeitet an der Schnittstelle von Schrift, Textkörpern und öffentlichem Raum. Seinen Vortrag nennt er „Thank you for your understanding“ und verfällt im weiteren Verlauf immer wieder ins Französische, stockt und überlegt, spricht eher nachdenkend zu sich selbst als zum Publikum – was dem Verständnis seiner Projekte keinerlei Abbruch tut, im Gegenteil. Eigenwilligkeit und Poesie kennzeichnen sein Arbeiten.

Di Sciullo beginnt mit dem „Anagram Generator of Recouverance“. Recouverance ist ein Stadtteil von Brest. Die Ausgangslage vor Ort: zwei riesige rosa Hauswände mit 34 Metern Abstand. Was tun?

Erst mal den Stadtteilnamen drehen und wenden und zerteilen. Die Bedeutung gibt nicht viel her. Doch wenn man die Buchstaben von Recouverance anagrammatisch auseinander nimmt und neu zusammensetzt kommt einiges zu Tage: „carne“ (Fleisch), créer“ (glauben) und so etwas wie „cœur ur en vrac“. Di Sciullo übersetzt „how you broke my heart“ (und meins ist kurz davor, wenn ich ihn so beobachte).

Nächster Schritt: Die Häuserwände betrachten, und zwar von weiter weg. Weil nämlich Apfel- … (Pause) oder andere … (Pausepause) Obstbäume, wie Di Sciullo ausführt, wenn sie weiter weg von Hauswänden stehen, mehr Sonne kriegen und süßere Früchte tragen. Und Gestalter kommen in sonniger Lage offenbar auf gute Gedanken: Di Sciullo appliziert Wörter und Wortfragmente aus „Recouverance“ bausteinartig auf die Hauswände, damit die Bewohner sie selbst zusammenfügen und damit weiterspielen, weiterdenken können.

Projekt 2 heißt „Serpentine’s Façade“. Es geht um die Neugestaltung der ramponierten Außenfassade eines riesigen, schlangenförmigen Gebäudekomplexes von 1957 (mit 2.000 Bewohnern, 600 Apartments und 53 Treppenhäusern). Di Sciullo entwickelt ein (zunächst viel zu buntes, dann reduziertes) Farbkonzept und setzt es in Glasmosaiksteinchen um. Konkret: in rund 32 Millionen Stück davon.

Hier wird der Designer-Poet pragmatisch und berichtet, dass die Steinchen viel teurer sind als ursprünglich veranschlagt und dass er sein Farbkonzept auch darauf abstimmen musste, dass die dunkleren teurer als die hellen sind, oder umgekehrt? Die Details verlieren sich (verliere ich) in seinen Denk- und Blickpausen und den französischen Passagen, die er immer wieder … (diese Pause ist jetzt von mir) … geschehen lässt („einstreut“ wäre schon zu intentional). Macht aber nichts.

Die Mosaiksteinchen sehen aus wie Pixel und schreien geradezu nach typografischer Nutzung. Erste Entwürfe mit Texten wie „Qui est là?“ („Wer ist da?”) an den Haustüren verwirft Di Sciullo schnell als allzu offensichtlich – und verfällt ins andere, ganz und gar subtil-suggestive Extrem. Er „versteckt“ in ihre  pixeligen Einzelteile zerlegte Riesenwörter im Mosaik, so dass sie – auch vom Publikum in der Typo Hall, auch von Ferne – kaum entziffert oder vielmehr enträtselt werden können. Di Sciullo weiss sie selbst nicht mehr, so geheim sind sie. Macht aber auch nichts. Es geht bei ihm immer um das große Ganze. Aber auch um das ganz Kleine, soviel ist gewiss.

Mit Projekt Nummer 3 wird er prompt ganz und gar „low tech“ und dabei „very interactive“. Zur Einführung von „Vocalises“ demonstriert er seine morgendlichen Stimmübungen. Für die Aneinanderreihung dieser Laute hat er mit dem Atelier „La Zone Opaque“, das er wegen ihres Namens, ihrer gut mit Blei gefüllten Setzkästen und jeder Menge herumliegender Holzlettern schätzt, ein Büchlein gedruckt. In flächigen Farben und Formen, die gerade noch an Typografie erinnern (mehr an grobe Stempel oder Kartoffeldruck), stellt es die Laute bildhaft dar. Ein Lautgedicht in bunten Bildern? Di Sciullo „liest“ (gurrt, schnurrt, zischt und ploppt) uns eine Seite vor, zum Beweis: es funktioniert!

Als Projekt 4 präsentiert er uns Nummer 13 seiner Publikation „Qui ? Résiste“ mit dem Titel „Thank you for your understanding“. Die Arbeit (noch in progress) sind Experimente mit der Micromega, einer digital entworfenen Schrift für den Druck dieser Ausgabe. Als Teil des Gestaltungsprozesses zeigt Di Sciullo seine handschriftlichen Notizen und Wort-Zeichnungen: auch hier wieder Wortspiele, Anagramme, philosophische Kurztexte in sorgfältig gezeichneten Buchstaben. Und doch betont er, dass für ihn Typografie nichts mit Kalligrafie zu tun hat („I don’t like at all calligraphy“) – um gleich darauf einen Großen dieser Zunft zu erwähnen. Leider habe ich den Namen nicht verstanden: Edward Feller, oder Edgar, oder so ähnlich? Falls jemand ihn kennt, bitte melden!

Danke, merci, thank you and muchas gracie, Pierre Di Sciullo.

www.quiresiste.com

PS

Zum Thema Lautpoesie und ihrer typografischen Darstellung empfiehlt sich die Beschäftigung mit den Dadaisten, allen voran Hugo Ball und Kurt Schwitters. Die Partitur bzw. den Schriftsatz zu dessen „Ursonate“, einer dadaistischen Sprechoper aus den 1920er Jahren, wurde von Jan Tschichold gestaltet. Nicht zu vergessen:

http://www.ernstjandl.com

Mehr in Sachen Anagramme und zum Selbermachen:

http://www.nachtreiter.de/scripts

http://www.wolfenter.de

http://www.sibiller.de/anagramme

Und noch ein kurzer Bonus-Track von Unica Zürn, der Königin. Ihre Anagramme und Zeichnungen (Gesamtausgabe bei Brinkmann und Bose) seien hiermit wärmstens empfohlen:

Guten Abend, mein Herr, wie geht es Ihnen?
Heim ins Grab, denn heute weht ein Regen.

http://www.junghans-art.de/art/zuern/zuern_biogr.html

http://www.inf.fh-flensburg.de/lang/fun/anagram/unica/ana1.htm

 

Pierre Di Sciullo

Pierre Di Sciullo

Born 1961, Paris, France. He is a graphic and typographic designer who works in various media on the links between voice, letters, body and space. He has created numerous typefaces: the Minimum, the Maximum, the Quantange, the Basnoda, the Sintétik, the Gararond and the Amanar, digital fonts in the Tuareg writing system. He expanded to work with scenographers and architects. Whether in wood, metal or glass, he likes things written large. That’s why literature and poetry is part of his work.