Dr. Beckers Rezeptur gegen Monocausalitis

Mit den Worten: „Wenn Sie jetzt nicht mit Dutzenden Fragezeichen im Kopf den Raum verlassen, habe ich versagt!“, beschloss Jörg Becker seinen Vortrag. Becker unterrichtet unter anderem Typografie, Kreatives Handeln und Visuelle Rhetorik an der University of Illinois in Chicago. Gut 40 Minuten dauerte der Zitatehagel, 40 Minuten geballte Inspiration, 40 Minuten, um die gängige Sicht auf kreative Prozesse völlig auf den Kopf zu stellen.

Jörg Becker: Wenn's mal wieder richtig shift.

Jörg Becker: Wenn’s mal wieder richtig shift.

Diesen Vortrag zusammenfassen zu wollen, grenzt an Blasphemie. Das muss man erlebt, aufgesogen und inhaliert haben, um erahnen zu können, was Becker auf das Publikum losließ. Arglos hatten wir den Saal betreten und uns unter dem Titel „Wenn’s mal wieder richtig shift“ im Vorhinein wenig vorstellen können. Eine knappe Stunde später waren wir um ein flammendes Plädoyer für Kreativität jenseits aristotelischer Logik reicher.

Wir alle denken wissenschaftlich – diese Denkweise allerdings behindert Kreativität. Wissenschaft entdeckt. Wörtlich: Deckt etwas auf, das schon längst da ist. Kreativität hingegen möchte kreieren, folglich Neues schaffen. Hier sind Denkmuster, die auf Logik aufbauen fatal; um kreativ zu sein darf nicht der erstbeste Weg beschritten werden, denn der mag zwar bequem sein, führt einen aber selten zu Neuem. Logikdenken ist tödlich, denn Logik sucht ihrerseits nach Logik, ist monokausal und trivialisiert Sachverhalte. Wer kreativ sein will, muss sich dem Unwissen hingeben, muss sich Unbedarftheit zugestehen, denn dies ist in diesem Kontext keineswegs negativ zu beurteilen. Im Gegenteil: Wer sich zu Beginn überlegt, wo er am Ende ankommen möchte, begreift den Weg dorthin nicht als etwas Eigenständiges, sondern wird alles tun, um mit Scheuklappen schlussendlich das anvisierte Ziel zu erreichen. Stattdessen müssen wir als Designer spielerischer denken, Unbequemes ausprobieren, uns vom Shift treiben lassen, statt ihn kontrollieren zu wollen. Andernfalls gibt es keine Bewegung, sondern Stillstand – der Shift wird zum unbeweglichen Zustand.

Joerg Becker

Jörg Becker

Jörg Becker is a »visual communicator« with a special interest in creativity, typography, sociology, rhetoric and communication theory. Holder of a degree in Visual Communication from a German university and an MFA in Graphic Design from the Netherlands, he teaches book design, creative practice, typography, visual rhetoric and the basic psychological principals of design at the University of Illinois in Chicago, USA, among others. For four years Becker worked on the visual communication of the German Government, as well as for several ministries, trade unions and other commercial clients.

Kurz: Wir müssen lernen erste Annahmen und Gedankengänge nicht als endgültig zu sehen, sondern sie zu hinterfragen, um uns aus unserer gedanklichen Kuschelecke, in der alles einfach und alles stimmig ist, hinauszubewegen.

Wir tendieren dazu, nur mit einer Perspektive zu arbeiten: Es stellt sich ein Problem, das gelöst werden muss. Doch ein Problem kann auch eine Lösung sein und jede Lösung ist aus einer anderen Perspektive ein Problem. Dieser Ambivalenz müssen wir uns öffnen, statt die Welt gemäß der angelernten, zweiwertigen Logik in richtig und falsch einzuteilen; wir müssen den Geist für das Dazwischen sensibilisieren.

Diese antrainierte, voreilige Kategorisierung abzulegen, ist schwer. Das weiß auch Becker, schließlich machte er mehrmals deutlich, dass er selbst sich aus dieser Denkweise keineswegs herausnehmen kann. Dennoch sollten wir einen unverstellten Blick, eine allmähliche Abkehr vom Leiden an der Monocausalitis anstreben und langsam die Augen für die Dinge jenseits schneller Lösungen, Kategorien und Bequemlichkeiten öffnen. Designer dürfen ihren Beruf nicht als Wissenschaft betrachten, stattdessen sollten sie Unwissenheit genießen und unbeschwerter denken.

Dies ist ein langwieriger und mitunter schmerzhafter Wahrnehmungswandel, aber er ist notwendig, um zu „shiften“, was Becker mit wunderschönen Folien und zahlreichen Zitaten anschaulich darlegte.

Wem es bis hierher zu theoretisch war, der sei zum Abschluss mit einem Beispiel an die Hand genommen: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 – setzen Sie die Reihe fort! Kurz – oder gerne auch länger – nachdenken, dann mit der Maus die folgenden, unsichtbaren Zeilen markieren. Danach vielleicht weiter unten als Kommentar die eigenen, hoffentlich abweichenden Gedanken niederschreiben.

Ab hier markieren: Sie haben an die Zahl 34 gedacht? Diagnose: akute Monocausalitis. „34“ ist natürlich eine mögliche Antwort, genauso aber „1337“, „Aristoteles“ oder auch „die Reihe ist hier zu Ende“. Niemand hat gesagt, es handle sich um ein mathematisches Problem, das mit Zahlenlogik gelöst werden müsse. Aus A mag B folgen, das bedeutet aber noch lange nicht, dass sich C anschließt. Trauen Sie sich außerhalb der vorgestanzten Muster zu denken. Erschaffen Sie Neues. Seien Sie, im wahrsten Sinne des Wortes, kreativ.

1 Comment

  1. HerrKrueger|May 28, 2011

    34, 55,… bei dem Vortrag waer ich gern dabei gewesen!