Zum Start des sehr strukturierten und sorgfältig durchdachten Vortrages blickt Scherer zunächst auf die beinahe konkurrenzlose Erfolgsgeschichte des iPads zurück. Sowohl im Hinblick auf Verkaufszahlen, als auch Benutzerfreundlichkeit ist das Tablet von Apple den Mitbewerbern um einiges voraus. Wenn man heute von „Tablets“ spricht, meint man also vorwiegend das iPad. An die Stelle der anfänglichen Euphorie der Verlage, das iPad sei die Wunderwaffe gegen die Gratiskultur des Internets, ist mittlerweile Enttäuschung getreten. Die Downloadzahlen der iPad-Magazine und Nachrichten-Apps waren und sind zwar hoch, allerdings scheinen die Nutzer sie nicht längerfristig zu verwenden – das liegt zum einen an fehlender Gewohnheit, da es keine angelernte Integration in den Tagesablauf gibt, aber zum anderen auch daran, dass die bisher erhältlichen Apps die Möglichkeiten des iPads kaum nutzen.
Scherer teilt die verfügbaren journalistischen Angebote auf dem iPad grob in drei Gruppen ein: Hier wären zunächst simple PDF-Formate, die das bestehende Print-Angebot nahezu identisch auf das iPad portieren. Dies mag kostengünstig sein, fordert das iPad aber kaum und erlaubt wenig tabletspezifische, kreative Freiheit. Zweitens sind die Rich-Media-Apps zu nennen, die das Print-Angebot abwandeln und Technologien wie Animationen oder Videos integrieren. Dies geht weit über eine herkömmliche Printveröffentlichung hinaus und begeistert die Benutzer auch, allerdings folgt die Publikation auch hier noch der generellen Printlogik mit Artikeln, einzelnen Seiten und wurde lediglich mit einigen neuen Elementen angereichert. Dies ist der Status Quo, vertreten beispielsweise in der gestern von Christoph Keese präsentierten BILD-App.
Doch laut Scherer nutzt auch diese Kategorie die Möglichkeiten des iPads kaum – spätestens hier fragt sich das Publikum: Was denn dann? Im folgenden wartet Scherer mit einigen Beispielen für seine dritte Kategorie auf: Diese bricht vollständig mit bestehender Print-Denkweise und verzichtet auf Analogien zum Papiermedium. Die gezeigten Beispielanwendungen erlauben eine fließende Navigation: Die App ist ein Abenteuerspielplatz, durch den sich der Benutzer frei bewegen kann. Es gibt zwar einen Einstiegspunkt, aber kein Ende. Die Bewegung durch den Content erfolgt nicht linear von vorne nach hinten, sondern explorativ-spielerisch. Durch Fingerbewegungen fährt der User fließend durch die App, kann sich sowohl in der Ebene, als auch in die Tiefe bewegen, Videos werden eingeblendet, Hintergründe sind animiert, alles wirkt lebendig, plastisch, erfühlbar. Ein solches Erlebnis meint Scherer, wenn er von „User-Experience“ spricht. Der Benutzer geht eine emotionale, spielerische Verbindung mit der Anwendung ein, statt sich linear hindurchzuarbeiten.
Scherer sieht in den Apps dieser letzten Kategorie die Zukunft. Für ihn ist das iPad nicht die Rettung der printdominierten Verlage, sondern vielmehr die Beschleunigung ihres Niedergangs. Will man zukünftig interessante Geschichten erzählen, die Anwender emotional fesseln und beeindrucken, so muss die alleinige Print- und Webdenkweise abgelegt werden und das iPad als etwas Neues betrachtet werden; ein neues Medium mit noch zu erforschenden Gesetzmäßigkeiten, Paradigmen und Regeln. Herr Keese und Herr Scherer wären ein gutes Team auf diesem Weg.
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