TYPO Berlin 2018 begann mit den eminent politischen Vorträgen des Begründers der Idee der Kreativen Stadt Charles Landry und des angesagten New Yorker Art Directors Jonathan Key. Auf den ersten Blick verbindet die beiden nicht viel: Landry und Key stehen für ganz verschiedene Disziplinen, Kontinente, Geschichten und Generationen. Während der eine aktiv Berliner Trends setzt, ist der andere zum ersten Mal in der Stadt. Doch beim genaueren Hinschauen offenbart sich, dass sowohl der Brite als auch der Amerikaner Veränderung als Chance für Verbesserung wahrnehmen – in der Theorie wie in der Praxis.
In seinem Vortrag über die neue Stadt referierte Charles Landry seine jüngste Publikation „The Civic City in a Nomadic World“ (hier Kurzzusammenfassung im Blog lesen).
Der renommierte Consultant und Autor thematisierte den urbanen Wandel und fragte, wo unser Platz ist, wenn sich alles – Menschen, Konzepte, Waren, ja die Realität selbst – ständig und mit großer Geschwindigkeit verschiebt und vorwärts drängt. Seine Analyse der Entwicklung von Lebensräumen lässt sich gleichermaßen auf den Designprozess anwenden.
Nach Landry sprach Jon Key. Der angesagte Gestalter ist das perfekte Beispiel für einen, der sich von rapiden Transformationen nicht nur nicht einschüchtern lässt, sondern sie als Anregung und Herausforderung begreift. Key ist Mit-Initiator von Artists Against Police Violence und Mitglied bei codifyart. Das Bewusstsein der Mainstream-Gesellschaft zu schärfen, indem man marginalisierten Gruppen – vor allem Frauen, queeren und Trans-Künstler*innen of color – eine Stimme gibt, ist seine Mission.
Gleichgültig ob es um Stadtentwicklung geht – Landry berät über sechzig Städte weltweit – oder um die Kulturindustrie, in der Jon Key für viele Auftraggeber tätig ist: Design kann neue Arbeitsroutinen triggern und frische soziale Strukturen erfinden. Fünf Aspekte gilt es dabei zu beherzigen:
1. MENSCH ZUERST!
Gute Designer können zuhören, lassen sich auf die Wünsche ihrer Auftraggeber ein und wollen sich engagieren. „Wir hören uns an, was die Kunden zu sagen haben, um ein Gefühl für ihre Mission, Ziele und Persönlichkeit zu bekommen,“ beschreibt Jon Key den Designprozess. Seine Arbeit orientiert sich vor allem am Menschen. Timothy Goodman erläuterte dem Publikum im großen Saal, dass er ständig nach dem Persönlichen und Einzigartigen strebe, was jedoch nicht mit Egoismus zu verwechseln sei. In seinem gemeinsam mit der Designerin Jessica Walsh realisierten Projekt 12waysofkindness.com geht es ausschließlich darum, mehr Empathie zu entwickeln. Der Art Director, Muralist und Illustrator in New York City findet seine eigene Motivation vor allem im Erzählen von Geschichten, die er grafisch umsetzt, um die Adressaten emotional zu erreichen, um Menschen aufzuklären und Bewusstsein zu schaffen. Immer wieder fordert er seine Zuhörer auf, Etiketten und Titel über Bord zu werfen und einfach zu tun, was ihnen gefällt. Daraus ergibt sich der zweite Grundsatz:
2. SEI BEWEGLICH. SEI ANDERS.
„Schriftsteller, Filmemacher, Künstler arbeiten mit Angst und anderen Gefühlen, um Wirkung zu erzielen. Warum verzichten Designer darauf?“, fragt Goodman. Er verbindet Emotion und Kreativität in seinem Engagement für Themen, die ihn und andere in seiner Nähe berühren – vor allem jene, die sonst kaum gehört werden. Manchmal kollidiert unser Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit mit der sich schnell drehenden Welt. Anstatt aufzugeben könnten wir doch eine andere Position beziehen und unsere innere Stimme stärken. Je unwichtiger es wird, wo wir uns physisch befinden, desto mehr zählen innere Einstellung und Verankerung. Zeiten des Wandels bieten die Chance für Wachstum und Inspiration, auch wenn sie uns manchmal ängstigen oder überwältigen.
Doch wie behalten wir unser (finanzielles) Wohlergehen im Blick, wenn die Grenzen verschwimmen und das Chaos uns Spaß macht? Die lola-media-Frauen Alex Mecklenburg und Erica Wolfe-Murray aus England lehren die Branche, auch vom Geld zu sprechen: „Nehmt die Zügel in die Hand!“ Die Kreativindustrie stärken durch kreatives Reflektieren – nicht nur der Fragen der Gestaltung sondern auch der Kommerzialisierung.
Nur wenn wir wissen, was uns von anderen Designstudios unterscheidet und wo wir Exzellenz bieten, können wir unsere Arbeit bewerten und ihren Preis bestimmen. Beschränken wir uns nicht darauf, nur die Anfänge unserer Projekte zeitlich zu messen und zu bepreisen, um unseren potenziellen Zukunftswert dann zu verschenken. Betrachten wir unsere Arbeit als Investition, nicht als einmaligen Kostenfaktor.
Aus den Gedanken zur Zukunftswirkung des Designs folgt Schlussfolgerung Nummer drei:
3. STREBE NACH GESUNDEM DESIGN
Jeder Designer weiß, dass man ohne kommerzielle Arbeit, ohne Einnahmen nicht überlebt. Es muss nicht negativ sein, so Design-Ikone Aaron Draplin, wenn deine Kreativität außer von offensichtlicher Ambition auch von der Notwendigkeit motiviert wird, die Rechnungen zu bezahlen. Doch es geht um mehr. Charles Landry erinnert ein weiteres Mal daran, dass wir im Interesse unserer Zukunft „gesundes“ Design anstreben sollten, nachhaltige, ethische Gestaltung, die über kurzfristige Gewinnorientierung hinausgeht. Sich auf das „große Ganze“ einlassen, die langfristigen Bedürfnisse der Welt sehen: Das ist ein interaktiver Prozess, von dem letztlich alle profitieren.
Für Saar Friedman aus Jerusalem impliziert das Weltoffenheit. Sein Vortrag vermittelte Einsichten in seine Heimatstadt und den Alltag (des Gestalters). Wo wir sind umgeben uns Grenzen. Sie sorgen für Stabilität und gleichzeitig schränken sie uns ein: Budgets, Kundenwünsche, gesellschaftliche Strukturen und vieles mehr. Friedman hat sich für Offenheit als Lebensstil entschieden, denn innere Schranken hindern uns zu tun, was wir eigentlich tun wollen. Als Designer obliegt es uns nicht nur, die Dinge schöner zu machen. Vielmehr müssen wir unsere Komfortzone verlassen und eine bessere Umwelt für alle bauen.
Die in Berlin lebende persische Grafikerin und Typografin Golnar Kat Rahmani kämpft gegen Rassismus, Islamophobie und für Geschlechtergerechtigkeit. Ihr gestalterisches Können setzt sie ein, um mit anderen ins Gespräch zu kommen, um zwischenmenschliche Begegnung zu fördern und Fragen zu thematisieren, die im Alltag oft übersehen werden. Ihre Arbeit orientiert sich an ihrer Vorstellung von einer idealen Welt.
4. JETZT IST IMMER DER FALSCHE MOMENT
Wie viele Projekte haben wir im Kopf? Private Ideen, nie realisiert oder auf später verschoben, weil uns gerade jetzt die Zeit, das Geld, die Ressourcen fehlen? Warum widmen wir uns ihnen nicht? Der britische Art Director und Musiker Elliot Jay Stocks fordert uns auf, persönlichen Plänen ebenso viel Bedeutung beizumessen wie „bezahlten Jobs“ und sie mit System, innerhalb festgelegter Zeitrahmen und mit klar definierten Meilensteinen zu verfolgen.
Die ägyptische Designerin dina Amin hatte keine Lust mehr, das, was sie wirklich machen wollte, in die Ewigkeit zu vertagen. Sie nahm sich die Zeit und widmete sich „ihrem Ding“. Konzentriert trat sie einen Schritt zurück und gab sich nicht länger dem Drang hin, karrieregesteuert und getrieben vom Wunsch, Geld zu verdienen, Probleme zu lösen und sich in gesellschaftlicher Anpassung zu üben. dina Amin nimmt Produkte auseinander und generiert durch das Offenlegen derer sonst unsichtbaren Komplexität ihren Mehrwert.
Timothy Goodmans Trigger war ein riesiges Wandgemälde in New York: gigantische schwarze und weiße Pinselstriche auf einer Mauer. „Wer bezahlt dich für Kritzeleien auf einer Hauswand?“, fragte er sich. Oder dafür, dass du Dinge zerlegst, anstatt korrekte, druckfertige Daten zu liefern? Die Lösung: Zeig, was du machst; lass die Leute wissen, was du kannst und was dich interessiert. So verschieben wir den Fokus unserer Arbeit auf das, was uns wirklich umtreibt.
Von einer großartigen anderen Methode der Akquise – als Alternative zum geduldigen Warten, ob sich zufällig Arbeit ergibt – berichtet Hansje van Halem: Nach der Veröffentlichung ihrer Schrift playtime als Buch bekam sie jede Menge Anfragen. Dabei hatte sie zunächst gar keine kommerzielle Verwertung geplant. Passionierte Projekte reizen potenzielle Kunden, die an einem bestimmten Stil und bestimmten Werten Gefallen finden. Dank der sozialen Medien ist Fundraising heute einfach wie nie: Die Crowd kann den Einzelkäufer durchaus ersetzen.
5. MAKE A DIFFERENCE
Internationale Trends und globale Moden sorgen für ästhetische Gleichförmigkeit in Design, Architektur, Tourismus und Handel. Der Mainstream-Look beherrscht die Welt. Ausgeblendet werden die Stimmen von Randgruppen; Reichtum und Vielfalt von Umwelten und Kulturen sind in Gefahr. Es gibt nur noch wenige Zonen für Experimente und Exzentrik. Alles sieht schnucklig und vertraut aus – und langweilig.
Die Hamburgerin Chris Campe hat sich auf Lettering, Buchgestaltung und typografische Projekte aller Art spezialisiert. Sie fordert ihre Zuhörer auf, das zu ergänzen, was -ihrer Meinung nach – fehlt: wirklich inspiriertes Design statt dem nächsten begeistert-handgemalten Zitat.
Oh ja! Diese drei Tage TYPO Berlin 2018 hatten jede Menge Trigger für uns in petto! Natürlich lassen sich die großen Probleme unserer Zeit nicht allein mit Design lösen. Doch da wir Design am besten können, sollten wir die Gelegenheit ergreifen und die Mainstream-Gesellschaft ein bisschen provozieren: Als Auslöser auf unsere Umwelt. Mit Haltung. Für den angemessenen Lohn unserer Leistungen aber bitte gerne Kritisch. Denn dann handelt es sich um ein wahrhaftig lohnenswertes Unterfangen.