Aus der Vielzahl der Bilder, mit denen Landry seine Keynote illustrierte, sind mir vor allem zwei im Kopf geblieben: Ein Mann sitzt auf der Straße vor einem öffentlichen Gebäude in Vancouver. Er arbeitet, den Laptop wenig stabil auf den Knien balancierend. Neben ihm auf dem Boden ein Stoffbeutel mit der Aufschrift „Roots“ (Wurzeln). Das andere Foto zeigt – scheinbar – den klassischen Co-Working- Space. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich, dass es sich um ein konzerneigenes experimentelles Setting im Foyer der größten Bank Antwerpens handelt.
Charles Landry machte mit der Analyse derartiger Beobachtungen Karriere. Für Comedia, seinen 1978 gegründeten Thinktank, Verlag und Consulting-Service, entwickelte er das Konzept der „kreativen Stadt“. Begriffe wie diese nutzen wir heute – wenngleich mit einem gewissen Zynismus – täglich. Doch für Landry geht es weder um Expertenslang noch um den Effekt: Konsequent und analytisch entwickelt er den methodischen Rahmen für die Messung und Evaluierung der sogenannten Kreativwirtschaft. Der nicht-private Landry trägt allerdings mindestens drei Hüte: Er ist wissenschaftlicher Autor, Berater und Redner.
Charles Landrys Vortrag war keine dröge Systematik, sondern bester Beleg für seine Popularität in der internationalen Konferenzszene. In einem Skype-Interview vor der diesjährigen TYPO versprach er: „Ich rede euch schwindelig!“ Er hielt Wort. In einem 45-minütigen Parforceritt präsentierte er das Panoptikum der technologiegetrieben Phänomene, die heute die Städte der Welt prägen. Und er formulierte nicht nur eine spektakuläre These, sondern provozierte sein Publikum – als lebendiger Trigger für Politiker, Stadtplaner, Investoren, Designer, Architekten, Infrastrukturexperten und Basisgruppen – mit der ganz konkreten Frage: „Wie wollen wir leben?“
Digitalisierung: Mehr als nur ein Update des Instrumentariums unserer Städte
Landry interessiert vor allem die Digitalisierung, die – ebenso wenig wie einst die Industrialisierung – mehr als eine schlichte Erneuerung des Instrumentariums ist. Vielmehr wirkt sie als eine Kraft, die mit großer Geschwindigkeit unser Verständnis von Raum, Ort und Zeit verändert. Wir sind so sehr an unsere Laptops, Smartphones und die sofortige Weitergabe/Verbreitung von Informationen gewöhnt, dass wir den profunden Wandel, den unsere Gesellschaften durchmachen, gar nicht mehr wahrnehmen.
Der Arbeitsplatz in einem Café, in einer Stadt fern der Heimat. Einen eScooter via App mieten. Dank Slack mit Kollegen zusammenarbeiten, die du nie persönlich trafst. Die in alle Richtungen verstreute Familie im Group-Chat zusammenkommen lassen. All die seltsamen Verhaltensweisen unserer Zeit plötzlich eingebettet in die physisch alternde und bürokratische Infrastruktur unserer Stadt. Es braucht Menschen wie Landry, die einen Schritt zurücktreten, den globalen Blick auf die Welt werfen und uns daran erinnern, dass wir uns aktiv mit der „Fragilität und Kreativität“ der Realität auseinandersetzen müssen, in der wir leben. „Neugierig, fantasievoll und kreativ“, weit mehr als „business as usual“.
Der eine oder andere Zuhörer fühlte sich von Landrys leidenschaftlichem Plädoyer am Donnerstagmittag vielleicht überrannt. Es war ein facettenreicher und potenter Appell in dieser ersten TYPO-Stunde: am Thema vorbei für eingefleischte Typo-Freaks, doch ein saftiger Happen Kontext, um uns einmal mehr vor Augen zu führen, wo wir Gestalter uns ins große Ganze fügen. Nicht wenige Städte sind sich mittlerweile der wirtschaftlichen Bedeutung der Kreativbranche bewusst – die allein in Berlin 33 Milliarden Euro wert ist. Es gilt jetzt, sie davon zu überzeugen, dass kreatives Denken auch ein immenses Potential für bürgerschaftliches Engagement birgt. Möge so mancher von uns die Chance nutzen!
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⇢ Charles Landry: The Civic City in the Nomadic World (video: 43 min)