Mitgeschnitten (3): Noch 11 Jahre kultureller Notstand?

Die neue Serie im Fontblog: Erkenntnisse, Randnotizen, Amüsantes.

Im 3. Teil seines TYPO-Reports für Eye trauert Jan Middendorp den alten Zeiten nach. Wie aufregend seien die Fuse 95 und die TYPO 96 gewesen. Tatsächlich erleben die Videoschnipsel der TYPO 96 gerade Klickrekorde im TYPO Podcast, was weniger mit der Qualität der Veranstaltung zu tun hat als mit der Neugier nach Bildern die zeigen, wie sich Freunde in 12 Jahren verändern können.

Jan, ich habe eine traurige Nachricht für Dich: Die nächste richtig große weltbewegende TYPO Berlin findet leider erst 2021 oder 2025 statt. Warum weiß ich das so genau? Erfahrung! Und Beobachtung. Wer die letzten 2 Jahrhunderte durchscannt, wird feststellen, dass den ersten 20 Jahren eines Jahrhunderts der Weg in die Kulturgeschichtsbücher schlicht versperrt ist.

Vielleicht hat es sprachliche Gründe, vielleicht war wirklich nix los: Niemand spricht von den 00er oder den 10er Jahren? Wir alle kennen die Roaring 20th, die tollen 30er, die wilden 50er, die verrückten 60er, und sämtliche Radiostationen spiele das Beste der 70er, 80er und 90er Jahre. Ich behaupte daher, was immer man in den kommenden Jahren anstellt in Sachen Mode, Musik, Malerei oder Design … es wird langfristig verpuffen.

Natürlich waren die FUSE 95 und die TYPO 96 einprägsame Veranstaltungen, weil es die für die 90er Jahre wegweisenden Designer Neville Brody und David Carson gab. Gäbe es heute solche Koryphäen, sie würde auf der TYPO eine Keynote halten, darauf kannst Du Dich verlassen, Jan. Es gibt sie aber nicht. So wie es in der Popmusik gerade keinen Elvis, keine Beatles und keine Depeche Mode gibt. OK, Depeche Mode gibt es noch, sie haben aber keinen Einfluss.

11 Comments

  1. drossmedia.com|May 30, 2009

    Die Typo 2009 war schon ganz passabel. Aber jetzt rede Dich nicht auf das Kalendarische hinaus. Schließlich sind wir “Frühes 21. Jahrhundert”.

  2. robertmichael|May 30, 2009

    es gibt genug gute schriftgestalter und designer in diesem und dem letzten jahrhundert, allerdings fallen die weniger auf weil es eine “überflutung” gibt.
    ich würde mich ja freuen wenn die fuse-idee nochmal auflebt. sie muss sich ja nicht nur auf schriftexperimente beschränken sondern könnte auch illustrationen oder bewegtbilder beinhalten. es gibt bestimmt einige gut designer die bereits in den letzten jahren auf der typo waren und die etwas beisteuern könnten. die fusereihe hat damals trend gesetzt und aufgezeigt – heute könnte sie das mit sicherheit wieder.

  3. simone|May 30, 2009

    Liegt nicht heute das Wesentliche im Subtilen? Darauf haben wir doch alle hingesteuert. Wir wollen nicht gleich sein, schon lange nicht mehr… Auch der kleine Unterschied ist genau das Wesentliche. So, aber jetzt hätten wir gern die Carson-Brody-Welt wieder… ?? Klingt sehr nach ‘the gras is always greener on the other side of the lawn’ oder ‘ich will immer das, was ich gerade nicht habe’.. Wie wär’s mal mit zufrieden sein und daran arbeiten die Zufriedenheit auszubauen, um sich noch weiter zu bringen, wohin auch immer das persönliche Ziel zeigt??? :-) Just an idea! :-) Funktioniert für mich!

  4. HD|May 31, 2009

    Wobei Depeche nicht wichtig waren, sondern Daniel Miller :-D.

    Ich fand die 2006 zum Beispiel wegen Kalle Lasse sehr wichtig.

    Ich hab letztens in früh-90er-Büchern geblättert (Cranbrook) und das hat meine Meinung bestätigt, das wir die (naive) Energie dieser Zeit, das einfach herumprobieren – auch mal geschmacklos – mit der neuen Technologie verloren haben. So wie eben Daniel Miller aus den frühen billigen Synths sehr solide Sounds für Depeche und Fad Gadget gezimmert hat, so haben Greiman und die frühen Emigre (und viele andere) hochkreativ mit dem eben schlechten neuen digital-design-medium gearbeitet. Da unser Medium inzwischen kommerziell und technologisch sehr erwachsen geworden ist, denke ich, dass diese Hybrid-Kreativen inzwischen weitergezogen sind (also nicht Greiman und Licko an sich, sondern der Typos experimenteller Technologie/Medium-Spieler) und sich wahrscheinlich als nächstes im Bereich Video (der gerade professionelle Technik billiger und billiger macht) das nächste große Ding drehen wird, oder vielleicht 3D… oder was ganz anderes.

  5. HD|May 31, 2009

    PS:
    Was nicht negativ klingen soll. Design und Typographie haben (nach der Frühreife des International Style) in den 80s/90s mit den neuen Techniken einen Kick gekriegt und waren plötzlich wieder sehr pubertär (so wie Musik mit MTV einen Kick bekam und wieder pubertärer wurde, kurzfristig). Zum einen kann sowas durchaus wiederkommen, zum anderen ist es ja auch nicht schlecht, erwachsener zu sein und sich nicht mit neuen Technologien auszutoben, sondern diese zielgerichtet und souverän zu beherrschen.

  6. HOCK|May 31, 2009

    In Zeiten der Krisen setzt jeder auf »Bewehrtes« keiner will ein Risiko eingehen. Leider sind Experimente auch immer mit Risiko verbunden – Fuse, David Carson etc. hätte auch floppen können. Ich würde das oben beschriebene Problem gerne auf das gesamte Grafikdesign ausweiten und nicht nur auf Typedesign.
    Meiner Meinung nach ist der Grund für unser »unexperimentelles« Design nicht nur im Mangel neuer Techniken zu suchen. Man sollte auch die Designausbildung genauer betrachte denn oftmals waren Evolutionen im Design mit Schulen (Bauhaus, HfG Ulm, etc) verbunden.
    Vielleicht wird an unseren Hochschulen zu wenig Wert auf Experimente gelegt alles muss markttauglich sein und den Forderungen der Wirtschaft entsprechen—muss es das wirklich? Vielleicht werden von den vielen Schulen auch zu viele Designer produziert. Dabei scheint es sich nicht um ein rein deutsches Problem zu handeln. Ich habe mich vor kurzem mit Freunden aus verschiedenen Ländern zu diesem Thema unterhalten und alle berichteten das selbe. Wer einmal eine Aufnahmeprüfung bestanden hat bekommt auch seinen Abschluss. Wenn man frei nach Darwin Evolution als Resultat von Mutation und Selektion definiert, sollte man vielleicht auch anfangen während des Studiums weiter auszusieben.

  7. Philipp|May 31, 2009

    Du sprichst mir aus dem Herzen Hock, Holger? Der extrem hohe »Auswurf« der Hochschulen jedes Semester ist einfach zu massiv geworden. Das hier auch die Qualität der Lehre/Gestaltung leidet und unverschämte Praktikas für Studienabgänger die Regel werden sind Begleiterscheinungen. Sollte man also besser aussieben, etwa 30 statt 70 Studenten? Ich bin da schwer dafür und sehe hier auch keine Elitedebatte, sondern einen anteiligen Schlüssel für den Erhalt, bzw. (in der Thematik des kulturellen Notstands) den Fortschritt und Elan der aktuellen Grafikdesignszene. Mich erinnern die aktuellen Arbeiten von angesehenen Designern so oft an die Epoche des Historismus.

  8. Jan M|May 31, 2009

    Jürgen,
    Du fasst meine Kommentare etwas karikativ zusammen.
    Ich bin kein Nostalgiker, erinnere mich bloß, dass die Veranstaltung
    – ein Focus hatte, eine zentrale Fragestellung, worüber man diskutierte, egal ob mit “Stars’ oder “newcomer”.
    – demokratischer und offener war, weil die Trennung zwischen “Künstler” und Publikum nicht so scharf war.
    Das sind keine Sachen, die heutzutage unmöglich sind, man muss sie aber schlau enszenieren.
    Ehrlich gesagt denke ich, es wäre sehr gut möglich heute eine “wichtige” Veranstaltung auszurichten. Dazu müsste man die Typo (und sich selbst) vielleicht etwas umprogrammieren. Die Pecha Kucha-Veranstaltung und die Diskussion im Garten am Freitag waren schon interessante Beispiele einer möglichen Innovation. Eine mehr kuratorische Herangehensweise, wobei Beiträge stärker auf einander bezogen werden, und die Veranstaltung als Event in Raum und Zeit frecher gestaltet oder enszeniert wird, könnte vielleicht helfen sichtbar zu machen, was es in dieser Zeit an wichtiges gibt.
    Übrigens, das mit den ersten 20 Jahren des Jahrhunderts war doch ein Witz, oder? Quatsch ist es auf jeden Fall.

  9. Jürgen|June 1, 2009

    Natürlich, Jan: Es war Satire. Aber irgendwie amüsant, dass diese Jahre im allgemeinen Sprachgebrauch – ich glaube, auch im Englischen – kaum jemandem über die Lippen kommen. Vielleicht wird es in diesem Jahrhundert anders.

    Danke für Deine Hinweise. Wir werden sie uns zu Herzen nehmen.

  10. Jan Middendorp|June 2, 2009

    Ganz ernsthaft jetzt:
    Das mit den Jahrzehnten hat warscheinlich nur mit der Sprache zu tun. Es gibt kein linguistisch unproblematisches Äquivalent von Twenties etc. für die erste zwei Dekaden. Übrigens waren die ‘teenies’ des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten und revolutionärsten Perioden unserer Kulturgeschichte: die Anfang der Moderne. Abstrakte Kunst, Dada, Konstruktivismus, Wörter in Freiheit, Krachkunst, Jazz: alles ab 1910 erfunden und entwickelt. Also, nächstes Jahr kann’s losgehen mit der Revolution!

  11. Jürgen Siebert|June 2, 2009

    Also, nächstes Jahr kann’s losgehen mit der Revolution!

    OK, Jan … wir freuen uns drauf und machen mit.