Sven Fuchs: Back to the Futura — Edward Johnston und Paul Renner hinterfragt

War die Futura wirklich die Schrift der damaligen Zeit? Wieviel haben Erbar, Koch und Renner von Johnston übernommen? Und wer war Lorenz Reinhard Spitzenpfeil? Diesen und einigen anderen, nur scheinbar hinlänglich erforschten, Fragen geht Sven Fuchs in seiner typografischen Zeitreise durch das 20. Jahrhunderts nach.

Vor drei Jahren begann Sven Fuchs mit seinem Masterstudium in Trier. Das Thema: Schrift/Identität/Manifest. Weit gefasst freilich, aber in erster Linie gehe es ihm um die Identität, um seine eigene als Designer wohlgemerkt. Und die Beschäftigung mit dieser ist naturgemäß eine Beschäftigung mit der Vergangenheit; man muss sich ja selbst verorten können, in dem was man tut. Um zu wissen was ist, und warum, müssen wir erst wissen was war.

Die Geschichte der Groteskschrift

Um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte von Schrift, von Typografie und der großen Ära der Groteskschriften genauer gesagt, geht es also. Aber was wissen wir von dieser Geschichte eigentlich? Es sind Eckdaten. Namen und Biografien bestenfalls. Im fast-forward-Modus fasst Fuchs zusammen: 1880er Jahre: William Morris. 1910: Werkbund und Sachlichkeit. 1919: dada. 1923: Bauhaus-Ausstellung. 1925: Iwan Tschichold – Elementare Typografie. 1946: Bill vs. Tschichold. 1950er: Schweizer Typografie. Ab 1990: post-moderne Typografie.
Aber ist es das schon? Reicht uns das, um sagen zu können wir kennen uns in der neueren Typografiegeschichte aus? Was war dazwischen und gab’s da nicht noch andere? Das sind die Fragen, die Fuchs interessieren.

Sven Fuchs © Norman Posselt

Sven Fuchs

Communication Designer (Saarbrucken)

Sven Fuchs is a communications designer focused on typography and code. He is currently doing additional research into a subject that formed part of his master thesis at the Trier University of Applied Sciences, namely functionalism in lettering and typography. Sven is one of the founders of Typocalypse, a typography collective and type foundry in Saarbrucken. He teaches workshops and is a lecturer at the Saar College of Fine Arts. Photo: Norman Posselt

Wer entscheidet, was in die Geschichte eingeht?

Die Typografiegeschichte ist – wie jede andere Geschichte auch – die Geschichte derer, die sie schreiben.
Dementsprechend beginnt Fuchs seine analytische Zeitreise in die typografische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einem Zitat von Dan Reynolds: „I think that the big industrial-era typefoundries tried to write the independent punchcutting and engraving firms out of the history books.“

Wie ein derartiges Aus-der-Geschichte-Rausschreiben konkret aussieht, illustriert eine Umfrage der Typografischen Mitteilungen aus dem Jahr 1933 auf sehr anschauliche Weise: rund 50 bekannte Typografen, Grafiker und Institutionen wurden zum Stand der Typografie befragt. Es ging um den vermeintlichen Stillstand der sachlichen typografischen Gestaltung. Darum, ob die Grotesk als Schrift des modernen typografischen Ausdrucks überwunden sei. Um Einschätzungen, ob die Fraktur in Zukunft wieder zu einer verstärkten Anwendung gelangen würde.
Das lässt doch einen unglaublich wertvoller Pool an Meinungen und Positionen erwarten, ein sehr differenziertes Fundament für eine repräsentative Geschichtsschreibung.
Möchte man meinen, doch überliefert sind lediglich die Antworten der drei Bauhäusler Moholy-Nagy, Bayer und Albers, sowie – mit etwas mehr Rechercheaufwand – die von Tschichold.
Was so bedeutende Gestalter wie Koch, Erbar, Renner oder Trump zu diesen damals als brennend empfundenen Fragen zu sagen hatten, ist nicht mehr zugänglich. Von den Beiträgen der weniger bekannten Befragten ganz zu schweigen. Wie so oft braucht auch in der Typografiegeschichte jedes Ereignis jemanden, der ein Interesse daran hat, dass es ins kollektive Gedächtnis eingeht.

Positionen, Thesen, Manifeste

Also forscht Fuchs weiter. Beleuchtet die spannende Zeit kurz vor der Machtübernahme, als eine der radikalsten Formen von Typografie entstand, als neue Entwicklungen gleichermaßen schockierten und begeisterten. Er sammelt Beiträge und Positionen und projiziert Zitat nach Zitat auf die Leinwand.
Und plötzlich finden wir uns in einem Sumpf aus Thesen und Behauptungen wieder und fast stellt sich eine Art Verlorenheit innerhalb dieses Zitat-Wirrwarrs ein.

TYPO-Berlin-2016-05-12-Norman-Posselt-Monotype-0092© Norman Posselt

Aber genau darum geht es Fuchs: dieses Gefühl, das er selbst im Zuge seiner Forschungsarbeit kennengelernt hat, zu provozieren und zu vermitteln.
Im Rahmen seiner Masterarbeit setzte er das grafisch durch eine chronologisch angelegte Zitatensammlung um: eine Aneinanderreihung von Meinungen, die sich gar nicht so leicht in Entweder/Oder, in Ja oder Nein aufteilen lassen. Es war eben doch nicht alles so dogmatisch und absolut wie es in der Retrospektive oft scheint oder dargestellt wird.

Wer war der erste?

Wenn wir uns nun also auf das beschränken, was überliefert ist und als gesichert gilt, können wir dann zumindest davon ausgehen, dass das auch stimmt?
Dass sich die beiden Strömungen innerhalb der Groteskschriftbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts – nämlich die an klassizistische Proportionen angelehnten Schriften von Edward Johnston und Eric Gill einerseits und die geometrisch konstruierten Groteskschriften von Renner, Erbar und Koch andererseits – unabhängig voneinander entwickelt hätten, müsse zumindest hinterfragt, wenn nicht sogar angezweifelt werden.
1927 zeichnete Paul Renner mit der Futura „die Schrift unserer Zeit“ und schuf den Prototyp geometrisch konstruierter Groteskschriften. Ein genauerer Blick in die Literatur offenbart: so neu, wie oft propagiert, war dieses Prinzip gar nicht. Als Beispiel zeigt Sven Fuchs eine geometrisch konstruierte Grotesk aus dem Jahre 1873, die stilistisch problemlos auch dem Bauhaus zugeordnet werden könnte. Des weiteren ein Lettering von Peter Behrens für ein Plakat aus dem Jahre 1907 mit einer geometrisch konstruierten Blockschrift. Und nicht zuletzt etliche Arbeiten des Grafikers und Künstlers Lorenz Reinhard Spitzenpfeil aus der Zeit um 1913. Spitzenpfeil definierte vier Grundalphabete für die deutsche Sprache: Antiqua, Fraktur, Schreibschrift und Kurrent. Aus deren Zeichen versuchte er eine Art Grundform zu extrahieren. Jeglicher Ausdruck sollte auf ein Minimum reduziert werden. Es entstanden bemerkenswerte groteskschriftliche Entwürfe, die beispielsweise das sogenannte Erbar-a vorweg nahmen.

Jede Zeit hat ihre Schrift

Am Ende des Vortrags stellt Sven Fuchs noch einen weiteren praktischen Teil seiner Masterarbeit vor: er hat sechs Schriftstile entworfen, die jeweils eine Epoche zwischen 1880 und 1965 reflektieren. Als Gestalter habe er sich dabei zurückgenommen. Durch die stilistischen Eigenarten der Schriften wolle er die jeweilige Zeit sprechen lassen.

Aber wer war der Pionier Lorenz Reinhard Spitzenpfeil nun wirklich? Wikipedia jedenfalls kennt den Herren nicht. Ein Umstand, der in der heutigen Zeit schier unglaublich anmutet. Und ein Beispiel für die vielen weißen Flecken der Typografiegeschichte, die laut Fuchs noch zu erkunden seien. Vieles – so eine mögliche Quintessenz seines Vortrags – müsse hinterfragt und wenn nötig sogar neu geschrieben werden. •