Mit Decknamen ist das so eine Sache. Pseudonyme wie Superman, The Hulk oder Captain America sind uns lebenslang ein Begriff – sie haben sich ganz einfach an unserem äußeren Kortex festgekrallt. Wer erinnert sich schon an Clark Kent, Bruce Banner oder gar Steve Rogers?
Wie ein Heldenkostüm wirkt auch das Kleiderensemble von Mr Bingo: pastellfarbenes Shirt und Shorts, darüber ein schwarzweiß gemustertes Hemd als maximaler Kontrast. Diesen Namen habe er sich nicht ausgesucht, erzählt er. Er verdanke ihn der Tatsache, dass er mit 19 Jahren beim Gala Bingo 141 Pfund gewann. Doch schon als Halbstarker, als er es gemeinsam mit einem Freund in Frauenkleidern auf die Titelseite der örtlichen Zeitung seines Heimatorts schaffte, muss er erkannt haben, dort alles nur Mögliche erreicht zu haben.
In schnellen Sätzen und mit klarer Stimme erzählt der Mann, dem seine Freunde, wenn es um sein Äußeres geht, Ähnlichkeiten mit Margaret Thatcher nachsagen, wie er danach strebt, immer den Gipfel zu erreichen, wo andere sich mit dem Basislager begnügen. Sein Appell an das Publikum: „Wenn du siehst, dass du etwas besser machen kannst, als das, was schon da ist – versuch es.“ Die mal schnell, mal penibel erstellten Zeichnungen und Animationen, die er über die Leinwand flirren lässt, zeugen dabei von der Vielfalt seiner Ansätze und lassen nur erahnen, was in diesem Kopf vor sich geht. Man denkt unwillkürlich an den Eisberg, von dem man nur die Spitze sieht.
Mr Bingo
Illustrator (UK)
Leichtfüßig und selbstsicher bewegt er sich in hellrosa Turnschuhen über die Bühne. So einfach wie sein Schritt scheinen auch die Ideen hinter seinen Illustrationen zu sein – doch Mr Bingo macht deutlich, mit welcher Akribie er an seine Projekte herangeht; sie sollen exakt die Reaktionen hervorrufen, die er beabsichtigt hat. Und wenn das bedeutet, dass er, um seine Kickstarter-Aktion für ein Buch zu bewerben, den Dreh eines Rap-Videos im Detail orchestriert, bis hin zu eigens geschriebenen Texten und speziell gecasteten Statisten.
Hate as an art form
Dabei schafft er eine abnorme Begeisterung für die unvermeidbaren Hasskommentare in einer von sozialen Medien vereinnahmten Welt, indem er persönliche Beleidigungen mit viel Liebe auf Postkarten kritzelt und diese an die dafür dankbaren Adressaten verschickt. „Die Leute sind mehr als du denkst dazu bereit, bescheuerte Dinge zu kaufen.“ Solche Leute sind für ihn die Personifizierung all jener Marotten, über die er sich im alltäglichen Leben aufregt: „Silent tourettes“ nennt er sie liebevoll. Seine „hate mails“, sie sind vor allem auch eine persönliche Angelegenheit.
Diesen Eindruck bekommt man im Übrigen von den meisten seiner Arbeiten. Überall scheint ein tieferes Begehren versteckt, Grenzen auszuloten und dabei nicht selten zu provozieren. Als er Briefmarken mit dem Antlitz der Queen auf Umschläge klebte und sie um pornografisch anmutende Zeichnungen ergänzte, überprüfte er dann doch sicherheitshalber den britischen Paragrafen zum Tatbestand der Majestätsbeleidigung.
Wer also Mr Bingo als modernen Satiriker bezeichnen möchte, liegt damit durchaus nicht falsch. Doch tut er dies auf eine fast verschmitzte Art und Weise mit einer Nonchalance, die auf den Betrachter entwaffnend wirkt. Das mag auch an seinem teilweise brutal klaren, auf Linien reduzierten Zeichenstil liegen, der die von ihm gezeigten Menschen und Szenen in all ihrer schmerzenden und doch vertrauten Ehrlichkeit ausleuchtet.
Diese faszinierende Dreistigkeit, die an der Wurzel des Großteils der Arbeiten von Mr Bingo blüht, ist auch die Frucht seines steten Drangs nach Perfektionismus. Ihm geht es darum, eine einfache Idee auf den Punkt zu bringen – und nur das zu machen, was ihm wirklich am Herzen liegt.
„Make art for people, not companies“, rät er am Ende und meint damit vor allem, dass man seine Arbeit immer auch als persönliches Statement sehen sollte.
Written by Felix v. Pless •