Mr Bingo: Wie kriegst du die Öffentlichkeit dazu, deine verrückten Ideen zu finanzieren?

Mit seinen brutal klaren Zeichnungen und umfangreichen Projekten schafft Mr Bingo Kunst, wo man sie nicht vermutet und verführt dabei den Blick seines Publikums. Bei genauer Betrachtung schafft er damit eine Brücke zwischen zum Teil hanebüchener Komik und seinen ganz persönlichen Anliegen.

Typo Berlin 2016 "Beyond Design"© Gerhard Kassner (Monotype)

Mit Decknamen ist das so eine Sache. Pseudonyme wie Superman, The Hulk oder Captain America sind uns lebenslang ein Begriff – sie haben sich ganz einfach an unserem äußeren Kortex festgekrallt. Wer erinnert sich schon an Clark Kent, Bruce Banner oder gar Steve Rogers?

Wie ein Heldenkostüm wirkt auch das Kleiderensemble von Mr Bingo: pastellfarbenes Shirt und Shorts, darüber ein schwarzweiß gemustertes Hemd als maximaler Kontrast. Diesen Namen habe er sich nicht ausgesucht, erzählt er. Er verdanke ihn der Tatsache, dass er mit 19 Jahren beim Gala Bingo 141 Pfund gewann. Doch schon als Halbstarker, als er es gemeinsam mit einem Freund in Frauenkleidern auf die Titelseite der örtlichen Zeitung seines Heimatorts schaffte, muss er erkannt haben, dort alles nur Mögliche erreicht zu haben.

„My existence is simple —
I try to amuse.“

In schnellen Sätzen und mit klarer Stimme erzählt der Mann, dem seine Freunde, wenn es um sein Äußeres geht, Ähnlichkeiten mit Margaret Thatcher nachsagen, wie er danach strebt, immer den Gipfel zu erreichen, wo andere sich mit dem Basislager begnügen. Sein Appell an das Publikum: „Wenn du siehst, dass du etwas besser machen kannst, als das, was schon da ist – versuch es.“ Die mal schnell, mal penibel erstellten Zeichnungen und Animationen, die er über die Leinwand flirren lässt, zeugen dabei von der Vielfalt seiner Ansätze und lassen nur erahnen, was in diesem Kopf vor sich geht. Man denkt unwillkürlich an den Eisberg, von dem man nur die Spitze sieht.

Mr. Bingo ©Tom Medwell

Mr Bingo

Illustrator (UK)

Mr Bingo was born in 1979. In 1980 he started drawing. There wasn’t a lot to do in Kent. Mr Bingo is called Mr Bingo because when he was 19 he won £141 at the Gala Bingo. He’s been making it rain ever since. Over the last fifteen years he has worked with hundreds of clients across a wide range of media; you might have seen his illustrations in TIME, Esquire, QI, The Mighty Boosh, The New York Times and on Channel 4. He is a regular in the New Yorker. In 2011 he began the project Hate Mail on Twitter, where strangers paid him to send a hand-drawn offensive postcard to a name and address of their choice. It sold out within days; since then he has opened it 12 times and it has sold out every time within minutes. In 2012, Penguin Books published a collection of the postcards called Hate Mail. Like much of his work, the project started as ‘a drunk idea’, but ended up being exhibited in galleries and gaining notoriety among the global press. In summer 2015, he ran a Kickstarter campaign to fund a high-end art book of his Hate Mail illustrations. The campaign, which was launched with a rap video, for which Mr Bingo wrote and recorded an original song, was set to run 28 days but was successfully funded within 9 hours and finished 386% funded with 3,732 backers, making it the most successful Kickstarter for a book in the UK ever. The rap video had over 80,000 plays over the duration of the campaign. Some of the Kickstarter rewards included going around people’s houses to do the washing up, getting drunk on a train, a date in a Wetherspoon’s of their choice, receiving a pornographic drawing of the Queen and being called up and told to fuck off on Christmas day. He tried to sell a year of his friendship but nobody bought it. Mr Bingo regularly appears at a variety of events around the world, from local bookshops to big media conferences. People regularly tell him he “really gets social media”. He feels an odd mix of pride and disgust at this. However, he continues to be very interested in using interactions with strangers to fuel his work, whether that is through illustration, video, music or writing. Social media is a big part of this. So come say hello! Photo: Tom Medwell

Leichtfüßig und selbstsicher bewegt er sich in hellrosa Turnschuhen über die Bühne. So einfach wie sein Schritt scheinen auch die Ideen hinter seinen Illustrationen zu sein – doch Mr Bingo macht deutlich, mit welcher Akribie er an seine Projekte herangeht; sie sollen exakt die Reaktionen hervorrufen, die er beabsichtigt hat. Und wenn das bedeutet, dass er, um seine Kickstarter-Aktion für ein Buch zu bewerben, den Dreh eines Rap-Videos im Detail orchestriert, bis hin zu eigens geschriebenen Texten und speziell gecasteten Statisten.

Hate as an art form

Dabei schafft er eine abnorme Begeisterung für die unvermeidbaren Hasskommentare in einer von sozialen Medien vereinnahmten Welt, indem er persönliche Beleidigungen mit viel Liebe auf Postkarten kritzelt und diese an die dafür dankbaren Adressaten verschickt. „Die Leute sind mehr als du denkst dazu bereit, bescheuerte Dinge zu kaufen.“ Solche Leute sind für ihn die Personifizierung all jener Marotten, über die er sich im alltäglichen Leben aufregt: „Silent tourettes“ nennt er sie liebevoll. Seine „hate mails“, sie sind vor allem auch eine persönliche Angelegenheit.

© Gerhard Kassner (Monotype)

Diesen Eindruck bekommt man im Übrigen von den meisten seiner Arbeiten. Überall scheint ein tieferes Begehren versteckt, Grenzen auszuloten und dabei nicht selten zu provozieren. Als er Briefmarken mit dem Antlitz der Queen auf Umschläge klebte und sie um pornografisch anmutende Zeichnungen ergänzte, überprüfte er dann doch sicherheitshalber den britischen Paragrafen zum Tatbestand der Majestätsbeleidigung.

Wer also Mr Bingo als modernen Satiriker bezeichnen möchte, liegt damit durchaus nicht falsch. Doch tut er dies auf eine fast verschmitzte Art und Weise mit einer Nonchalance, die auf den Betrachter entwaffnend wirkt. Das mag auch an seinem teilweise brutal klaren, auf Linien reduzierten Zeichenstil liegen, der die von ihm gezeigten Menschen und Szenen in all ihrer schmerzenden und doch vertrauten Ehrlichkeit ausleuchtet.

Diese faszinierende Dreistigkeit, die an der Wurzel des Großteils der Arbeiten von Mr Bingo blüht, ist auch die Frucht seines steten Drangs nach Perfektionismus. Ihm geht es darum, eine einfache Idee auf den Punkt zu bringen – und nur das zu machen, was ihm wirklich am Herzen liegt.
„Make art for people, not companies“, rät er am Ende und meint damit vor allem, dass man seine Arbeit immer auch als persönliches Statement sehen sollte.

Written by Felix v. Pless