Sofie Beier: The typeface character

Ein Vortrag über die Liaison zwischen Inhalt und Schrift – eine Wohltat für ihr gemeinsames Kind: die bessere Lesbarkeit.

Lesbarkeit und Schriftdesign sind untrennbar, lassen sich nicht voneinander destillieren. Schriften färben den Inhalt und somit die Erreichbarkeit des Lesers. Im besten Fall gehen die Komponenten eine Bindung ein, agieren wie die Besten partners in crime.
Sofie Beier möchte anhand eines Auszuges ihrer bisherigen und aktuellen Forschungsarbeiten zeigen, wie insbesondere Designer mit dem Wissen über das Leseverhalten der Menschen umgehen können.

Beispiele, Beispiele, Beispiele, das ist eine ausgeklügelte Methodik, die sie während des Vortrages gebraucht – und es ist gewinnbringend. Das Gezeigte beweist eindeutig: Wir müssen uns des Inhalts bewusst sein, um den passenden Charakter einer Schrift zu wählen. Charakter ist im Zusammenhang mit Schriftdesign der entscheidende Punkt – jede Schrift hat einen und das ist auch notwendig.
Die zentrale Gretchenfrage ist demgemäß, wie gehen Charakter und Inhalt konform miteinander um?

Strong + Paltino Italic – eine Paarung mit einem trübsinnigen Ende … © Sebastian Weiß (Monotype)

Sofie Beier plädiert darauf, dass es wichtig ist zu verstehen, was hinter den Schriften steht und steckt. Was sagen Schriften aus? Welche Emotionen rufen sie hervor?

Es ist wie mit den Weinexperten. Sie erläutert: Um die eigene Expertise mit den verschiedenen Weinen zu etablieren, ist es auch wichtig, bei einem gefüllten Weinglas hindurch sehen zu können.
Ihre Veranschaulichung geht weiter.
Folgendes Szenario: Wir haben ein wundervoll dekoriertes Fenster. Sonnenlicht kann nicht hinein fallen, kein Blick vom Interieur kann hinaus fallen. Welchen Zweck hat das Fenster also für uns? So schön die Oberfläche ist, so wichtig ist aber auch die entsprechende Funktion.

Hello, inattentional blindness …

Das Fatale, jeder kennt es, sich auf zwei Sachen zu konzentrieren, fällt mitunter schwer. Glauben Sie mir nicht? Eine einfache Übung für zwischendurch: Schauen Sie das Video von Daniel J. Simson namens „The Monkey Business Illusion“. Wenn Sie es nicht kennen, vertrauen Sie mir, es ist ein sehr unterhaltsames Unterfangen.

Wir fokussieren zu sehr auf rhythmisch Bekanntes, sodass wir schnell eine gewisse Achtsamkeit vergessen. Zu fokussieren, ja das klingt einleuchtend, polemisch, fein und gut. „Worauf“ ist also die Frage. Die Antwort sehr simpel: Auf das, was wir mit dem Text, mit den Worten sagen wollen.

Wir schauen auf Schriften und nehmen ihren Charakter als solchen wahr. Sobald wir aber anfangen zu lesen, vergessen wir die Erscheinung des Schriftbildes. Die Unaufmerksamkeitsblindheit – eine schöne Wortkomposition – erwischt uns.
Es gibt viele Beispiele für die so genannte Unaufmerksamkeitsblindheit.Es bedingt demnach die Aufgabe, jedem Text die Aufmerksamkeit zu schenken, die es Bedarf, um Lesefluss und gewünschte Emotion des Lesers zu unterstützen – durch die richtige Auswahl der Schrift.

The Chocolate Test

Sofie Beier beweist anhand weiterer Beispiele, wie abhängig wir beim Lesen uns vorgegebener Texte von der Schrift sind. Das Zusammenspiel von Typeface und Emotionen sind seit Jahren wissenschaftlich untersucht.
Ein Test mit einer wundervoll süßen Versuchung beweist die Beeinflussbarkeit der Rezipienten durch die vorher gefallene Schriftwahl.
Es wurden jeweils Schokoladen angeboten. Die zur Verfügung stehenden Boxen wurden mit dem Inhalt durch unterschiedliche Schriften betitelt. Die Schokoladenschachtel, die mit einer eleganteren Schrift beschrieben war, leerte sich schneller als die Andere.
Klipp und klar: Emotionen, Inhalt und Schrift spielen untrennbar zusammen.

TYPO-Berlin-15-05-21-Sebastian-Weiss-Monotype-7089
© Sebastian Weiß (Monotype)

The Bouba-Kiki Effect

Nächste Folie: Es sind zwei Kleckse abgebildet. Die Form, die sie annehmen, sind für Ihren Charakter bestimmend. Damit der Inhalt übereinstimmt, wird das Publikum gebeten „Bouba“ und „Kiki“ jeweils zu verzeichnen. Bouba wird eindeutig mit dem runden, eher undefinierten assoziiert, während Kiki der scharfkantige Klecks neben Bouba ist.
Es wird nicht weniger redundant, wenn ich es noch einmal wiederhole: Emotionen, Inhalt und Form spielen untrennbar zusammen.
Im Endeffekt sollte dieses Wissen für die Lesbarkeit und den Leser genutzt werden.
Die verwendete Schrift hat etwas mit der auf den Leser wirkenden Stimmung zu tun. Schrift, passend zum Inhalt ausgewählt, beeinflusst und ist sehr stark.

A brain cut

Interessanterweise spielen unsere Gehirnhälften eine extrem bedeutende Rolle während unseres Leseflusses. Das gilt für das lateinische, hebräische und arabische Schriftbild gleichermaßen. Eher verspieltere, aufwendigere, weniger – und nun verzeihen Sie mir die Verwendung des Wortes – „normale“ Schriftbilder können von der rechten Gehirnhälfte besser verarbeitet werden. Das heißt, das linke Auge fasst die Worte schneller auf. Im Gegensatz sind eher gebräuchliche Schriftbilder mit der linken Gehirnhälfte besser greifbar und werden demgemäß mit dem rechten Auge schneller und leichter gelesen. Dieses Wissen ist in der Praxis Gold wert.

Schau dir das Video an

Nun sind wir kategorisch Gewohnheitsmenschen: Sich an Schriften zu gewöhnen, fällt gar leicht. Aus wissenschaftlichen Studien kann Sofie Beier diese These gewissenhaft unterlegen. Um ein neuartiges Schriftbild auf dem Markt zu stabilisieren, muss der Leser nur oft genug damit konfrontiert werden. Desto öfter, desto einfacher. Es bedarf tatsächlich nur zwanzig Minuten kontinuierliches Lesen (im Schnitt), um einem neuen Schriftbild vertrauter zu werden.
Aber wir sind auch Faultiere! Wir wissen insgeheim, dass wir im Lesefluss komfortable, einfachere Schriftbilder bevorzugen.

So spiegelt sich auch historisch diese Erkenntnis wider. Sei es in Italien, Frankreich oder gar in Deutschland. Leider haben die Nationalsozialisten schnell verstanden, dass die von ihnen ursprünglich verwendete Schrift auf Propagandaplakaten zu viel Zeit in Anspruch nahm, die Lesegewohnheit der Bevölkerung zu ändern. Sie griffen auf die altbekannte, bereits etablierte Schrift zurück, um schneller ihren Inhalt zu verbreiten.

The bottom line

Sofie Beier hätte nicht schöner mit ihrem Vortrag enden können, als mit der bereits erwähnten Referenz zum Fenster: Selbst wenn wir ein wunderschön gestaltetes Fenster haben, bei dem uns das Hindurchblicken schwer fällt – solange wir es öffnen können, erfüllt es seinen Zweck und stimmt uns als Nutzer positiv.


Vielen Dank für den Vortrag.

Sofie Beier

Sofie Beier

Type Designer, Professor at the School of Design / The Royal Danish Academy of Fine Arts (Copenhagen)

Sofie Beier is a type designer and associate professor employed at the School of Design under The Royal Danish Academy of Fine Arts, where she is the head of the MA programme in Type & Wayfinding. She holds a PhD from the Royal College of Art in London and is the author of the book “Reading Letters: designing for legibility”. Her current research is focused on improving the reading experience by achieving a better understanding of how different typefaces and letter shapes can influence the way we read.

JG