Holm Friebe: die Stein-Strategie – von der Kunst, nicht zu handeln

Holm Friebe eröffnet die TYPO Berlin 2014. Allein das ist eine Meldung wert – und Kennzeichen dafür, dass die TYPO längst nicht mehr „nur“ Typografie und Grafik-Design umfasst, sondern mehr denn je auch die Gestaltung der eigenen Arbeits- und Lebenswelt, das Ineinandergreifen der diversen Ebenen, auf denen wir handeln (oder auch nicht).


Holm Friebe Foto © Gerhard Kassner
Mit derlei Themen hat sich Holm Friebe – zusammen mit Leuten wie Kathrin Passig und Sascha Lobo – schon frühzeitig auseinandergesetzt. Sein Bruder Jens tut das auf musikalischem Wege (Albumtitel wie „Abändern“ oder „Das mit dem Auto ist egal, Hauptsache dir ist nichts passiert“ sprechen Bände). Holm Friebe hat Begriffe wie den der Digitalen Bohéme mitgeprägt, den Buchtitel „Wir nennen es Arbeit“ zum geflügelten Wort werden lassen und Powerpoint-Karaoke erfunden. Kurz: Der Mann ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. So auch hier – wieder mal. Bei der TYPO 1998 hat er David Carson interviewt, bei der TYPO 2006 Powerpoint-Karaoke veranstaltet. Nun ist er bekennend stolzer Key-Note-Speaker.

Sein Ausgangspunkt: „Alle rühren heute die Propaganda-Trommel für Change und Innovation – wir sollen alle aktiv auf den Wandel einsteigen“. Slogans wie „innovate or die“, „disrupt or be disrupted“ versetzen uns in „permanenten Vollalarm“. Angefangen habe das bereits in den 90ern mit Propagandisten wie dem US-amerikanischen Autor Spencer Johnson und seiner „Mäuse-Strategie“. Dieses „unglaublich einfältige Buch“ habe sich unglaublich erfolgreich in den USA, nämlich über 20 Millionen mal verkauft und offenbar einen Trend in Sachen Tiervergleiche losgetreten: Bald gab es unter anderem „Das Pinguin-Prinzip“, „Die Schaf- “ und „Die Kakerlaken-Strategie“. Dem setzt Friebe nun als „Grabstein oder Schlussstein“ seine „Stein-Strategie“ entgegen. Wumms.

Nicht handeln, obwohl man handeln könnte

Das allerdings ist „nicht nur parodistisch gemeint“. Aktionismus sei unser Problem. Es geht Friebe nicht um Muße und Müßiggang, sondern um Nichthandeln. Denn nicht handeln kann nur der, der handeln könnte, wenn er denn wollte. Diese Erkenntnisse sind mehr als 1.000 Jahre alt und wurzeln im Taoismus und Konfuzianismus. Auch hier schon war das Nicht-Eingreifen oder auch Handeln durch Nicht-Handeln philosophische Leitlinie, wie in vielen Kulturen. So besagt ein afrikanisches Sprichwort: „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht“ – ein kleiner Querverweis auf die Graswurzeln, die Roots der TYPO und das diesjährige Konferenzthema.

Welche Beobachtungen lösen Friebes Besorgnis aus? Falls man bei einem so unaufgeregt wirkenden Redner Besorgnis mutmaßen darf – der Mann ist selbst das beste Beispiel dafür, dass innovative Überlegungen ganz unaufdringlich daherkommen können. „Es wird so oft etwas getan, nur damit etwas getan wird.“ Es gäbe so viel an „simulierter oder schlecht fingierter Arbeit“, sagt er.

„Aktionismus ohne Strategie richtet Schaden an“

Ein gewisser Parkinson (ohne Bezug zur gleichnamigen Krankheit) hat das bereits in den 1950er Jahren als Parkinsons Gesetz formuliert: Jede Arbeit dehnt sich so lange aus, bis sie die dafür vorgesehene Zeit vollständig ausfüllt (was für ein gruseliges Bild). Nachweislich gilt das bis heute: Eine Befragung unter 2.000 deutschen Angestellten hat ergeben, dass zwei von fünf Arbeitstagen mit folgenlosen Meetings und sinnlosen E-Mails vertan werden. Das heißt im Umkehrschluss: Wir werden produktiver, wenn wir „uns weniger an der Bullshit-Folklore beteiligen“.

Der Mann spricht sanft so harsche Worte aus. Und bringt noch härtere Beispiele: So habe ein gewisser Kurt von Hammerstein-Equord seine Offiziere in vier Lager eingeteilt: faul, fleißig, klug und dumm. Je nachdem, wo auf seinem Fadenkreuz er sie jeweils ansiedelte, teilte er ihnen Aufgaben und Funktionen zu, wo sie möglichst nützlich sein oder möglichst wenig Schaden anrichten konnten. Das könnte sich auch heute bewähren, denn „Aktionismus ohne Strategie richtet Schaden an“ und es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen gut gemeint und gut gemacht. Zeitlos gültige, wenn auch unpopuläre Thesen.#

Holm Friebe

Holm Friebe

Holm Friebe is an economist, the General Manager of ZIA (the German “Zentrale Intelligenz Agentur”, which translates as “Central Intelligence Agency”) in Berlin and a Professor for Design Theory. He was one of the founders of Riesenmaschine.de, a weblog that has been awarded the Grimme Prize, and he invented the Powerpoint Karaoke format. In addition to his bread and butter job as branding and strategy consultant he has written several non-fiction bestsellers, including "Wir nennen es Arbeit" (2005), "Marke Eigenbau" (2008), "Was Sie schon immer über 6 wissen wollten" (2011) and "Die Stein-Strategie" (2013).

Einfach mal die Ruhe bewahren

Warum fällt es uns so schwer, in unübersichtlichen Situationen abzuwarten? Weil „Passivität, Ausharren und Füße still halten ungleich mehr Selbstdisziplin erfordern“ als loszulegen und irgendetwas zu tun, um sich sinnvoll zu fühlen – auch wenn es noch so sinnlos oder sogar völlig kontraproduktiv ist. Friebes Beweisführung mündet in einem Fußball-Video: Der Torwart, der einfach in der Mitte seines Tores stehen bleibt anstatt sich wild in die eine oder andere Ecke zu werfen (und damit den an ihn gestellten Erwartungen zu entsprechen), hält das Tor. Wenn er das immer macht, wird er gefeuert. Ähnlich natürlich der CEO, der öffentlich bekunden würde „warten wir lieber mal ab“.

Lektion 1: STAY PUT

Die erste Lektion der Stein-Strategie besagt, dass der beste Schutz und die beste Strategie oftmals darin bestehen, einfach an Ort und Stelle zu verharren. Manchmal ist es sogar überlebenswichtig, wie Laurence Gonzales in seinem Buch „Deep Survival“ belegt: Für Verunglückte oder Verirrte ist „stay put“ und sich finden lassen die absolut überragende Strategie, wohingegen blindes Umherirren in den allermeisten Fällen ins Verderben führt.

Schützenhilfe für die Stein-Strategie kommt auch seitens Frank Partnoy, der in einem Buch mit dem schlichten Titel „Wait“ als Kernbotschaft vermittelt, dass wahre Profis „warten so lange sie eben können“. Das war auch Warren Buffetts bester Plan. Der Unternehmer und Großinvestor war nach eigener Aussage mit „Lethargie an der Grenze des Faultierhaften“ am erfolgreichsten. Womit wir wieder bei den Tiervergleichn wären (aber sei’s drum).

Selbst Steve Jobs sagte „I’m going to wait for the next big thing“ und lieferte mit dieser vermeintlich belangloses Aussage, so Holm Friebe, ein „Paradebeispiel für Demut und Gelassenheit“ (das nächste große Ding war dann MP3). Unternehmen wie Lego hingegen zerstören sich in ihrem Innovationswahn fast selbst und finden nur mit Mühe zum Kern ihrer Marke und ihres Seins zurück – im Falle Lego: zu den Steinen (!!!). Zu den supererfolgreichen Flagship-Stores mit Lego-Steinen zum Kilopreis. Zu Messen auf denen Jung und Alt um die Wette bauen. Zu dem Film, der aktuell in den Kinos läuft, mit 15 Millionen animierten Lego-Steinen: Die greifbare Antithese zu all dem Digitalen, dem man eine Zeitlang nachzueifern versuchte.

Lektion 2: Don’t believe the hype

Holm Friebe ergänzt unsere Literaturliste um „Future Babble“ von Dan Gardner, dessen Erkenntnisse er bezeichnet als „Schlag ins Kontor der Zunft der Trend und Zukunftsforscher“ (eine seiner vielen ausgefeilt schönen Formulierungen). Am besten schnitten noch diejenigen Experten ab, die „sehr bedächtig, sehr konservativ“ schätzten, am schlechtesten die anerkannten Experten in einem Spezialgebiet und darunter – aufgemerkt! – insbesondere die, die häufig in den Medien auftauchten. Friebe spricht hier vom „Overconfidence–Effekt“.

Ein Steinexperte, der voraussagt, dass alles bleibt wie es ist, hätte naturgemäß besser abgeschnitten. Doch sind es in der Regel „radikale, spektakuläre Zukunftsszenarien“, die auf Anklang stoßen, „weil die realistische Variante auch die langweiligere ist“.

Hysterisierbarkeit vs. Normalisierbarkeit

Erfolg hat, was hysterisierbar ist. Die Computerlinguistin Jackie Feen hat den „Gardner Hype Cycle“ entworfen: eine neue Technologie erscheint – zack, setzen überzogene Erwartungen ein, sprich Hype (Kurve steil nach oben) – zack, abrupte Entbegeisterung (Kurve steil nach unten) – dann Einpendeln und Normalisierung, im Idealfall mit Umsetzung der realen Möglichkeiten der neuen Technologie. Das betrifft aktuell gerade Phänomene wie „Big Data“, die sich auf dem Gipfel des Hype befinden (kurz vor Absturz also). Wie damit umgehen? Die Doppelbotschaft lautet: Mach nicht mit, nur weil es „in“ ist; verpass es nicht, nur weil es „out“ ist.

Zurück zur Ausgangsfrage: Leben wir tatsächlich in so bewegten Zeiten? Manche sagen, wir leben in langweiligen Zeiten, weil das Innovationstempo fast zum Stillstand führt (Peter Thiel, End of the Future). Ein gewisser Robert Jordan macht mit Studenten den Toilettentest: Würden Sie auf eine Outdoor-Toilette (sprich Plumpsklo im Hof) zurückgreifen wollen für das neueste Update irgendeines Gerätes oder einer App? Friebe reflektiert, dass die Frage beim TYPO-Publikum nicht die üblichen Antwortquoten ergeben mag. Trotzdem gilt: Innovationen vor 100 Jahren – sagen wir: Telefon und Toilette in der Wohnung, Glühbirne, Waschmaschine, Flugzeug – waren bahnbrechende „Basiserfindungen“ und haben die Menschheit entscheidend nach vorne gebracht, unser Leben gravierend verändert. Die neueste App tut das nicht.

Gegenwartseitelkeit

Und doch herrscht zu allen Zeiten eine Art „Gegenwartseitelkeit“ (dem Wort gebührt ein Essay für sich). Psychosomatische Reaktionen waren auch vor 100 Jahren gegeben und in ihrer Symptomatik fast identisch mit denen von heute. Man nannte es halt Neurasthenie oder Nervenschwäche statt Burn-out und (lost) Work-Life-Balance, und „jeder moderne Großstädter, der es sich leisten konnte, litt darunter“ (wieder so eine sanft vorgebrachte Anmerkung, deren traurig-harte Implikationen wie nachträglich durchsickern).

„Zukunft kann ja nur aussehen wie die Gegenwart auf Speed“

Entsprechend seien Vorstellungen von der Zukunft stets geprägt von der jeweiligen Gegenwart: „Zukunft kann ja nur aussehen wie die Gegenwart auf Speed“, konstatiert Friebe und verweist auf die utopistischen Stadtentwürfe der 1970er Jahre sowie auf Lucius Burckhardt, Der kleinstmögliche Eingriff – als Leitlinie für die Stadtplanung. Ähnlich argumentiert hätten Kreuzberger Hausbesetzer, als ganze Häuserzeilen in Berlin (für eine Stadtautobahn) platt gemacht werden sollten, die heute begehrteste Wohngegenden sind.

Das heißt nicht, dass Fortschritt grundsätzlich abgelehnt werden sollte. Nix Kulturpessimismus. Man solle nur „nicht so leicht auf das Kindchenschema des Neuen hereinfallen“. Nicht alles ist toll, nur weil es neu ist.

Neomanie

Neurasthenie und Neomanie hängen natürlich zusammen und führen zu völliger Überreiztheit. Es werde einfach viel zu viel Gewicht gelegt auf die aktuell „heißesten“ Erfindungen – wie in den 60ern auf Raumfahrt, in den 70ern auf Plastik – und „wir überschätzen systematisch die Rolle des Neuen“. Gleichzeitig unterschätzen wir oft „die Chancen arrivierter Technologien“. Auch David Edgerton empfiehlt (in „The Shock of the old“), dass wir uns frei fühlen sollten, in scheinbar ausgereizten Feldern nach Innovation zu suchen.

Eigentlich „ein schönes Schlusswort“, doch Friebe habe gelernt (bei TED), dass eine Rede immer mit einer Art „Call for action“ enden sollte: „Das fällt mir natürlich schwer“.

Trotzdem, noch einmal zusammengefasst, eindringlich:

  • „Seien Sie misstrauisch.“
  • „Glauben Sie nicht jeden Hype.“
  • „Gehen sie einfach gelassen Ihren Geschäften nach.“

Das lässt sich kürzer fassen mit der wohlbekannten Botschaft, die bezeichnenderweise zur Zeit eine Wiederentdeckung erlebt und aus dem 2. Weltkrieg stammt: KEEP CALM AND CARRY ON.

Die Typografie dieses Posters hat Friebe aufgegriffen für die Typografie seiner Präsentation. Er zeigt einen Dokumentarfilm darüber, wie die beruhigende Botschaft in die Welt kam und zu einem er erfolgreichsten Meme überhaupt wurde: „The story of the second world war poster“.

Der Schlusssatz daraus lautet:
„a warm-hearted message in difficult times“.

Das lassen wir jetzt mal so stehen.

 

Text — Sonja Knecht ist Director Text bei Edenspiekermann.

PS

Die Stein-Strategie. Von der Kunst, nicht zu handeln“ ist erschienen im Carl Hanser Verlag, München 2013, ISBN 978-3-446-43677-0. Mehr zu Holm Friebes Werdegang und Wirken und weitere Links finden Sie im Sprecher-Porträt Holm Friebe und im Beitrag von Sabine Gruppe: Holm Friebe eröffnet TYPO Berlin 2014.