Monsterjob

Seine Arbeiten wurden national und international mit Kreativpreisen ausgezeichnet – doch hier geht es ihm um etwas anderes. In seiner „Anleitung zum Ausbrechen“ erzählt Thomas Lupo, wie es einem ergehen und was einer bewirken kann, der den sicheren Schreibtisch verlässt und seinem Herzen folgt.

Das trifft für ihn doppelt zu: Er fährt mit seiner brasilianischen Frau auf Hochzeitsreise in ihr Heimatland und entdeckt in Rio de Janeiro, in der Favela Morro do Papagaio am Fuße des Zuckerhutes, ein Betätigungsfeld, das ihn nicht mehr loslässt. Sein Ausbrechen aus dem „rein kommerziellen“ Arbeiten ist vorprogrammiert.

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Die Beobachtung allerdings, dass der Unterschied zwischen arm und reich in südamerikanischen (asiatischen, europäischen) Metropolen so deutlich und unüberbrückbar sei, gehört nicht zum alleroriginellsten und mag etwas erstaunen in der Naivität, mit der sie vorgetragen wird. Ebenso die Feststellung, wie offen, frei und neugierig Kinder doch seien. Beides könnte auch jemand bemerkt haben, der sein Leben lang nicht hinter Stuttgarts Stadtmauern oder den Bürowänden seiner Agentur hervorgeblinzelt hat. Oder zeigt hier jemand einfach, wie berührbar er geblieben ist? Dass es Momente im Leben gibt, wo man auf diese Art empfänglich ist?

Ein Jahr später heuert Lupo als Hausmeister in der Kita „seiner“ Favela an, bekommt dafür ein Zimmer und richtet mit einfachsten Mitteln eine Art Kreativtrainingscamp für die Kinder ein. Sprachbarrieren, amüsierte Neugier über den seltsamen Fremdling, Stromausfälle und nächtliche Schüsse: Nach drei Wochen hat er sich daran gewöhnt, und seine neue Mitwelt sich an ihn.

 

Und los geht’s:

  • Lupo zückt die Kamera, die Kinder werfen sich sofort in Pose. In böse, coole Posen, die ihnen vertraut und Vorbild sind.
  • In ihren ersten Zeichnungen überwiegen Monster. Monster, Monster, nichts als Monster! Monster allüberall! Die Kinder lieben Monster.
  • Lupo zeichnet eine Monster-Malanleitung für die, die sich noch nicht richtig trauen oder ihre Monster variieren möchten. Es entstehen noch viel mehr Monster, eines schöner als das andere. Eine wahre Monsterflut – Lupo hat sie im Film zusammengefasst.

 

  • Er vervielfältigt die Monster im Copy-Shop und rührt mit den Kindern Kleister aus Gelatine an. „Lick and stick“ heißt die Devise: den Kleister wie bei Briefmarken auf die Rückseiten der ausgeschnittenen Papiermonster geben, und ab damit auf die Wände, die Türen, die Straßenschilder der Favela. Einzelne Augen und Zähne auf Mülltonnen zaubern Monster in 3D hervor.
  • Mit „Paste up“ brechen Lupo und seine Kinder aus dem Format aus. Die Monster werden vergrößert. Die Bewohner der Favela begrüßen dies freudig: Statt Beschwerden kommen Einladungen, doch bitte „auch unser Haus“ mit Monstern zu verzieren.
  • Lupo bringt Magazine und Bücher mit, aus denen ausgeschnitten und kopiert werden darf. „Ein Riesenspaß“, daraus Collagen und immer größere, immer wildere Bilder zu entwickeln. Vögel, die auf Rohren an Hauswänden sitzen, Politiker mit Monsterköpfen … Viele der Kinder hätten sich „am Anfang nichts zugetraut“ und werden nun immer mutiger.
  • Ganz oben an der Brücke prangt ein Bild von Pedro mit der Kamera, der stellvertretend für die ganze Kinderschar über die Favela blickt.
  • Lupo leitet die Kinder an, mit schwarzem Klebeband Buchstaben zu formen, sie als Beschriftung für ihre Bilder oder eigenständig zu nutzen. Die Buchstaben vektorisiert er und gestaltet damit T-Shirts für die Kinder (und später sein Buch).
  • Weiteres Ausbrechen in Richtung 3D: Monster zum Anfassen. Aus Stoffresten werden Monsterpuppen genäht und ausgestopft und in der Favela ausgesetzt. Immer sind sie am nächsten Tag weg, landen wohl im Bett eines Kindes. „Die haben sie so geliebt!“ – selbst „die harten Jungs“ nähen mit Hingabe immer neue Monsterpuppen nach. Ein Hauch von Voodoo liegt in der Luft.
Unter „Stencil“ entstehen Sprühbilder; Projekt „Cardboard“ startet mit einer großangelegten Pappsammelaktion. Es ist Thomas Lupo wichtig, mit kostenlosem oder sehr billigem Material zu arbeiten, denn Geld ist keins da – und wird erst recht keines da sein, wenn er wieder weg ist. Doch dann können die Kinder etwas; es geht um Befähigung.
  • Aus der Wellpappe erwächst ein immenser Reichtum an Dingen. Die Kinder bauen, was sie sich wünschen: eine Spielkonsole, Mobiltelefone und Fernseher, Kassettenrekorder, eine komplette DJ-Anlage. Armbanduhren, Tastaturen, Computer – und ihre ganze Favela aus bunt bemaltem Karton. Den Traum vom Rockstar erfüllen sie sich mit einem Pappschlagzeug, dazu Gitarren und Bass, Sonnenbrillen und Mikro. So ausgestattet stellen sie sich aufs Dach und rocken den ganzen Tag, zur Freude der Favela-Bewohner.
  • Das Meisterstück in Pappe ist Brunos Fotoapparat. In tagelanger Feinarbeit baut er Lupos Kamera nach. Mit allen Details, Knöpfen, Schaltern und einem richtigen Sucher.
  • So bringen die Kinder Lupo auf die Idee, sich den Bereich Fotografie gemeinsam zu erschließen. Zudem fällt ihm auf, dass er in seinem fotografischen Dokumentieren zwangsläufig nie den Blick der Favela-Kinder auf ihre Welt einfangen kann – immer nur seinen eigenen. Er baut mit ihnen Kameras: aus Streichholzschachteln, lichtdicht umwickelt mit dem multifunktionalen schwarzen Klebeband, einer vollen Filmrolle rechts, einer leeren links, und einem Pappschieber vor dem Sucher. Dieser wird vor dem gewünschten Motiv hochgezogen, die Kinder zählen bis fünf, wieder runter, und schon ist ihr Bild belichtet. Den Film rollen sie per Hand weiter.

Ein kleines Wunder, dieses Fotografieren – mit wunderbaren Ergebnissen. Leicht zerfranste Ränder und eine eigentümliche Lichtstimmung zwischen Camera obscura und Polaroid geben den Bildern eine zeitlose, melancholische, fast mystische Atmosphäre. Die Motive tun ihr übriges: der Blick in eine schmale Favela-Treppe, die Füße und Schuhe der Spielkameraden, Stoffmonster in der Sonne sitzend, das lachende Gesicht eines Geschwisters im Bett. Hier haben wir den Blick der Kinder auf ihre Welt. Und er ist anders als unserer, anders als der von Thomas Lupo. Weiter unten, zum Beispiel, näher dran.

Thomas Lupo

Thomas Lupo

ARTHELPS. This project by designer and artist Thomas Lupo lends a voice in society to the disadvantaged via the media art and design. Lupo’s works have been awarded prizes both nationally and internationally. This former student of Visual Communication from the DESIGN PF today works as an Art Director at Jung von Matt.
Brasilien ist das Land mit den meisten alleinerziehenden Müttern auf der Welt. Ihren Kindern das Selbstbewusstsein und praktische Möglichkeiten zu vermitteln, ohne finanzielle Mittel von außen zu eigenem Ausdruck, einer eigenen kreativen Sprache zu finden, ist eine tolle Leistung.

Auch wenn man sich mit Thomas Lupo streiten könnte über seinen Begriff des Kreativen und seiner Vorstellung einer erweiterten Kreativität als künstlerisches Gestalten für Unterprivilegierte, der immer noch zu eingeschränkt wäre: Hier wird deutlich, dass es um Erfindungsreichtum, Phantasie und originelles, originäres Handeln geht – jenseits eingefahrener Muster, Limitierungen und Job- oder Alltagsroutinen. Auch ein brasilianischer Taxifahrer und jede alleinerziehende Mutter sind kreativ, wenn sie ihr Leben, ihre Arbeit kreativ gestalten. Oder ein schwäbischer Bäckermeister. Ganz ohne Kunschd.

Die Erfahrungen am Stadtrand von Belo Horizonte haben Lupos Blick auf die Welt verändert. Er empfiehlt Vergleichbares jedem „Kreativen“ in der so genannten „ersten Welt“ und erinnert daran, wie privilegiert wir seien, an einer Konferenz wie der TYPO teilnehmen und uns mit „Kreativem“ befassen zu dürfen.

Seltsamerweise fühlt sich diese Abgrenzung oder Selbstdefinition nicht richtig gut an. Erstens weil die TYPO weit über klassisch „Kreatives“ hinausgeht, zweitens weil Lupo hier doch den eigenen Status zu markieren scheint: „Wir haben mehr zu geben als viele Menschen da draußen“. Huch! Unbewusste restkoloniale Arroganz? Gehen wir hinaus in die Welt zu den Minderprivilegierten, um ihnen die kreative Botschaft zu bringen? Geht es hier nicht vielmehr um Interaktion, um gemeinsame Erfahrung, um den Kreativen (wie hier Lupo) allenfalls als Medium, das im Kontakt mit anderen kreative/künstlerische Prozesse anstößt?

Doch Lupos Begeisterung dafür, „etwas weiterzuführen“, „als Kreativer“ das eigene „Potential zu nutzen“ (hier hat die Floskel endlich einmal Sinn) und stetig „etwas zu verändern“, sowie der damit verbundene Appell sind durchaus glaubhaft und sympathisch.

Er jedenfalls hat seine Arbeit in Brasilien zum internationalen Hilfsprojekt ausgeweitet: ARTHELPS – Kunst hilft, verleiht Benachteiligten „eine Stimme in der Gesellschaft“. Das heißt nicht, dass man weit reisen muss: Aktuelle Projekte von ARTHELPS sind (unter anderem) in der Schweiz situiert und drehen sich um Jugendliche im dortigen Strafvollzug. Es gibt auch hier genug zu tun.

Die Werke der brasilianischen Kinder dokumentierte Lupo in seiner Bachelor-Arbeit und bekam dafür unter anderem Gold vom DDC. Als Buch wird die „Anleitung zum Ausbrechen“ im Oktober 2011 im Hermann Schmidt Verlag erscheinen – und zwar mit allen Anleitungen, auch für die Kamera aus der Streichholzschachtel.

Bleibt zu hoffen, dass das sicher wunderschöne Buch schlussendlich nicht doch als reines „Kreativprodukt“ eines Einzelnen wahrgenommen wird, sondern als Kooperation, als schönes Beispiel für gelungene künstlerische Interaktion – und tatsächlich anleitet zu Ähnlichem. Möge ARTHELPS viele Unterstützer, Mitmacher, Nachahmer finden.

Vielen Dank für den Monsterjob und ganz viel Glück, Thomas Lupo!

www.arthelps.de

PS

Für die Aneignung eines erweiterten – aus engen Definitionen ausgebrochenen (!) – Kreativitätsbegriffs, dem Lupo letztendlich längst folgt (denn auch „Kreative“ können kreativ sein), empfiehlt sich das grundlegende Werk des Soziologen und Sozialphilosophen Hans Joas. Er gehört dem Committee on Social Thought an der University of Chicago an, sowie dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), und ist Vize-Präsident der International Sociological Association.

Hans Joas, Die Kreativität des Handelns
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992

Seinem Buch stellt Joas ein Zitat von John Dewey voran:

„Creativity is our great need, but criticism,
self-criticism is the way to its release.“

Zum Weiterlesen:

John Dewey, Kunst als Erfahrung
suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw 703)

Auf dem Rücktitel davon wiederum findet sich:

„Die Kunst beweist, dass der Mensch Stoffe und Energien
der Natur mit der Absicht nützt, sein Leben zu erweitern.“