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Supernatural: David Carson

Eine Verteidigung von Jürgen Siebert

Wer sich in einen Vortrag von David Carson setzt, sollte wissen, worauf er sich einlässt … und nachher nicht jammern. Sein Buch »The End of Print«, vor 15 Jahren erschienen, hat sich 200.000 mal verkauft, wurde in 5 Sprachen übersetzt und ist mit Abstand das erfolgreichste Grafikdesignbuch der Welt. Der Mann ist kein unbeschriebenes Blatt. Selbst wer Carsons Wirken nicht in allen Details präsent hat, sollte zumindest das Fundament seiner Arbeit kennen: seine subjektivistische Designauffassung, die Regeln radikal ablehnt und zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt. Wer das nicht aushält, wird in einem David-Carson-Vortrag unglücklich, weil ein solcher gleichermaßen unvorhersehbar verläuft.

Making of: Julian Smith – booed off the stage

Es war kurios: Die TYPO Berlin 2010 begann mit einem Pfeifkonzert und endete mit stehenden Ovationen. Das Pfeifkonzert war allerdings inszeniert. Ich habe eben auf YouTube das Making-of gefunden. Es ist unten eingebettet … zunächst das Original.

Der US-Internet-Filmemacher Julian Smith (23) dreht am Ende seiner Präsentation in der TYPOhall einen 40-Sekunden-Clip, in dem er ausgebuht wird. Diesen lädt er unmittelbar auf seinen YouTube-Kanal hoch. Zwei Minuten später kann der ganze Saal das Ergebnis auf der Leinwand bewundern. Danach twittert er den Link des Films an seine 11.500 Follower und bittet alle im Saal, die Nachricht zu »retweeten«. Innerhalb einer Stunde kommentieren über 100 Fans das Video auf Youtube … .

Wie er diesen Film gemeinsam mit dem Publikum inszenierte, zeigt das nachfolgende Video aus Zuschauersicht … Den Stiefel warf übrigens Carlos Segura.

Ergreifend: »Der König ist Kunde«

Ich möchte etwas ausführlicher über einen TYPO-Auftritt am Samstagabend berichten, wie es ihn in der 15-jährigen Geschichte der Konferenz noch nicht gegeben hat. Er endete mit stehenden Ovationen. Besucher hatten Tränen in den Augen. Gleich zwei Zuschauer fassten ihre Gefühle sinngemäß so zusammen: Ich möchte jetzt keinen weiteren Vortrag mehr ansehen – es kann nicht besser werden. Doch beginnen wir von vorne …

Foto: © Mirka Laura Severa

Angekündigt sind der Mannheimer Student Julian Zimmermann und sein Auftraggeber (»Kunde«), ein afrikanischer König, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt. Daher der burleske Titel des Vortrags: »Der König ist Kunde« … wir alle kannten den Leitsatz bisher in umgekehrter Anordnung. Julian Zimmermann ist ein Schlaks, 1,96 m groß, spindeldürr … und überaus charmant. Er spricht einige einführende Worte, um alsdann seinen Koreferenten, »den König«, auf die Bühne zu bitten. Applaus brandet auf. Doch der König kommt nicht, weil das vereinbarte akustische Signal ausbleibt.

Das Audiokabel steckt nicht im Präsentationsrechner, wie der rasch herbei eilende TYPO-Techniker Jochen Evertz nervös und bemüht feststellt. Da beugt sich Zimmermann mit den Worten »Ganz ruhig bleiben …« zu ihm hinunter, was ihm den ersten Szenenapplaus einbrachte, denn eigentlich hat im Moment nur einer auf der Bühne Grund nervös zu sein: der junge Vortragende. Der aber setzt – souverän wie ein TV-Nachrichtensprecher – zu einem zweiten Anlauf an: »OK, machen wir das jetzt noch mal … begrüßen Sie mit einem herzlichen Applaus: den König …«. Trommelklänge und Gesänge setzen ein, und nun erscheint er, in farbenfrohem Gewand, die goldene Krone auf dem Kopf, einen geschnitzten Stock in der rechten Hand, einen Wedel in der linken: Togbui Ngoryifia Céphas Kosi Bansah, König der Volksgruppe Hohoe Gbi Traditional Ghana, die zum 3-Millionen-Volk der Ewe im Osten Ghanas gehört.

Foto: © FontShop
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Danke, König Céphas Kosi Bansah

Es war der – im wahrsten Sinne des Wortes – krönende Abschluss der TYPO Berlin 2010: Die Vorstellung des neuen Erscheinungsbildes von Togbui Ngoryifia Kosi Olatidoye Céphas Bansah, König von Hohoe GBI Traditional Ghana. König Bansah regiert den Volksstamm der Ewe, die etwa 13 Prozent der Bevölkerung Ghanas ausmachen, von Deutschland aus. Dabei nutzt er moderne Kommunikationsmittel, inklusive E-Mail und Internet.

Der Mannheimer Student Julian Zimmermann überarbeitet im Rahmen seiner Bachelorarbeit die Internet-Seite des Königs und gestaltet erstmals eine visuelle identität für den Monarchen – positioniert in einem Koordinatensystem mit den Achsen exotisch und majestätisch. Wir werden in der kommenden Woche noch einmal ausführlich auf den bewegenden Auftritt eingehen, der die TYPO-Besucher verzauberte.

Zum ersten Mal in der 15-jährigen Geschichte der TYPO endete die Konferenz mit Standing Ovations: Viele Besucher hatten Tränen der Freude und Rührung in den Augen. Danke an König Bansah und der königlichen Familie, Dank an Julian Zimmermann und seinem Dozenten Bernhard Pompeÿ.

Foto © Thorsten Wulff

Dan Reynolds: Die Leidenschaft des jungen Multi-Script-Schriftgestalters

Der Amerikaner Dan Reynolds (1979), lebt seit 2001 in Deutschland, arbeitet als Fontentwickler bei Linotype und ist Dozent an der Hochschule Darmstadt. 2008 erwarb er den MA in Type Design der University of Reading (GB). Für seine jüngste Schrift Malabar erhielt er das TDC Certificate of Excellence in Type Design und die Silbermedaille der ED-Awards 2009. 2010 wurde Malabar mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland in Gold ausgezeichnet.

Dan Reynolds wollte schon immer eine Devanagari Schrift entwickeln. Devangari ist ein Schreibsystem aus Nordindien, das in vielen Sprachen verwendet wird, darunter in Sanskrit, Nepali und Hindi. Die Idee fiel nicht ganz aus heiterem Himmel; wie er selber sagt, verdankt er dies Fiona Ross und würdigt sie in einer kleinen Lobesrede. Fiona Ross führte in den 80er Jahren das Linotype Schriftzeitungsatelier in England. Zu einer Zeit, in der Print noch vorherrschend war, hielt Linotype 90% der Satzsysteme für alle Zeitungsschriften im arabischen Raum und in Indien. Reynolds war fasziniert von dem Gedanken, dass »mindestens 1 Milliarde von Menschen diese Schriften lesen«. 2007 nahm er sich bei Linotype ein Auszeit, um in der klosterähnlichen Abgeschiedenheit der University of Reading seiner Leidenschaft zu frönen. Nach 12 Monaten intensiven Studiums war es für Reynolds »wie selbstverständlich«, sich der komplexesten Aufgabe zu stellen, die er sich selber nur vorstellen konnte: Der Entwicklung einer Devangari Schrift, die schließlich als Malabar mehrfach ausgezeichnet wurde.

Erwin Bauer: Form Follows Passion

Erwin K. Bauer ist alpenländischer Landwirt und Kommunikationsdesigner mit einem herrlichen Wiener Akzent. Sein interdisziplinäres Designstudio »bauer – konzept & gestaltung« wurde zuletzt mit zahlreichen Preisen beim Red dot, beim European Design Award und dem österr. Staatspreis ausgezeichnet. Bauer unterrichtet er an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.

Nach seinem Vortrag über außergewöhnliche Designpartnerschaften mit Mut zum Risiko auf beiden Seiten gehen wir mit vielen interessanten Eindrücken und vor allem mit einigen Denkanstößen aus dem Saal. Erwin Bauers Schaffen orientiert sich an der Ideologie von Victor Papanek, als Vorreiter sozialen und ökologischen Designs in den 60er Jahren einer »seiner persönlichen Heros«. In der Auseinandersetzung mit der Frage, was wir heute wirklich brauchen ist es Bauers zentrales Anliegen, den Menschen im Design ins Zentrum zu stellen und Design als gesellschaftsgestaltende Kraft zu verorten. Wie das aussehen kann, zeigt ein außergewöhnliches Projekt: Über ein Jahr hat er mit seinem Team Botenfahrer befragt und portraitiert, die »als ungesehene Dienstleister einfach vorhanden sind, eher selten angesprochen werden und als schlecht verdienende Menschen in der Gesellschaft existieren«. Auf diese Idee gekommen ist Bauer, weil er selber jeden Tag 20 km durch Wien radelt. Sein Büro liegt in einem alten Industriegelände, von wo aus früher ein Drittel der Stadt mit Licht beliefert wurde und heute viele produzierende Werkstätten angesiedelt sind – optimal für ein multidisziplinäres Gestaltungsbüro, wo Designer, Architekten, Fotografen, Programmierer und Texter arbeiten. Fast alle Projekte entstehen in Zusammenarbeit mit anderen Ideengebern, zudem ist Bauer mit vielen seiner Kunden persönlich befreundet. Das heißt allerdings nicht, dass die Zusammenarbeit immer nur harmonisch ist. Am wichtigsten ist ihm, dass eine Idee mit Leidenschaft getragen wird und Identität sich zusammen mit dem Kunden entwickelt, »sonst überlebt das Design nicht«. Das demonstriert Bauer ausführlich anhand eines Projektes mit gesellschaftspolitischer Brisanz: »Kampf um die Stadt – Politik, Kunst und Alltag um 1930« ist eine Ausstellung, die den Zerfall der Gesellschaft während der Bürgerkriegsjahre in Österreich mit Parallelen zur Gegenwart thematisiert. Wolfgang Klos, Direktor des Wien Museums wollte dafür einen lebendigen Ort des Austausches schaffen, etwas Leidenschaftliches.

Leidenschaft ist für Erwin Bauer die Grundvoraussetzung seiner Arbeit. Trotzdem darf man »nicht egoistisch sein und manchmal bedarf es auch etwas Pragmatismus«. Die Frage ist, wie man die Ratio mit der Emotion vereint. Laut Erwin Bauer bringen es die 10 Gebote immer noch ziemlich genau auf den Punkt, die er zum Schluss abstrahiert in Form von Verkehrsschildern zeigt. »Ich glaube, wenn wir uns daran halten, ist es sehr einfach«.

Furore machen: Abenteuer im Zine-Land


Bei seinem dritten Auftritt auf der TYPO gewährt uns Piet Schreuders einen Einblick in seine eigene Laufbahn als Designer und Magazin-Macher.  Die erste Ausgabe seines Katzen-Fanzines “De Poezenkrant” hat er Mitte der Siebzigerjahre noch mit der Hand zusammengeklöppelt und im Copyshop um die Ecke vervielfältigt. Ohne sich viel dabei zu denken, kennzeichnete er diese Ausgabe als „#1“. Einen Fehler, so warnt er seine Zuhörer, den man, wenn man ein ähnliches Unterfangen startet, tunlichst vermeiden solle: Man wecke damit nur Erwartungen, dass weitere Ausgaben folgen werden. Und so wurde aus einer fixen “one-off”-Idee eine Zeitschrift, die bis zum heutigen Tage in unregelmäßigen Abständen erscheint. Dabei gleicht keine Ausgabe der anderen, das Design wird jedes Mal komplett neu entwickelt. Auch inhaltlich entspricht die Zeitschrift nicht den landläufigen Erwartungen vieler Katzenfans. Statt sinnvoller Ratschlägen zur Tierhaltung gibt es Skurriles, wie eine namentliche Auflistung von Katzen mit zugehöriger PLZ, statt niedlicher, wollknäueliger Kätzchenfotos eher verstörende Bilder von böse dreinschauenden Straßenkatern. Nichtsdestotrotz ist die Abonnentenschar im Laufe der Jahre von anfangs zwölf persönlichen Bekannten auf 3000 gewachsen. Inzwischen gibt es zum 30-jährigen Jubiläum sogar eine Anthologie in Buchform.

Das Magazin Furore, dessen erste Ausgabe Schreuders 1975 zusammen mit einer Gruppe gleichgesinnter Künstler und Schriftsteller herausbrachte, verfolgt ein ähnlich anarchistisches Konzept. Angetreten mit der frechen Aussage, das „wichtigste Kulturmagazin seit dem zweiten Weltkrieg“ machen zu wollen, genoss es Schreuder vor allem, nun einen Vorwand zu haben, alte Heroen wie Hergé und den niederländischen Autor Willem Frederik Hermans kennenzulernen.  Eine weitere Leidenschaft findet regelmäßig Niederschlag in Furore: die Lust, Drehorte geschätzter Filme zu recherchieren und zu besuchen. Die nächste Ausgabe der Furore wird etwa dem Film „Le Ballon Rouge“ gewidmet sein, dessen Originalschauplätze im Pariser Stadtteil Belleville Schreuders aufgespürt und fotografiert hat und nun im Magazin in Fotomontagen den Film-Stills gegenüberstellen wird.

Tomahawk und Exocet


Schriftdesigner Jonathan Barnbrook ist direkt aus Sydney zur Typo gekommen, und arbeitet gerade für David Bowie. Auch er bemüht Thomas Mores Utopia, beschreibt wie die Vorstellung von Utopia im Lauf der Jahrhunderte immer von korrespondierenden Schriften begleitet wurde.
Jonathan glaubt an die Verbesserung der Gesellschaft durch den Einfluss des Typedesigns. Sein erster Font, Prototype, war noch ohne Computer entstanden. Die Schrift litt allerdings unter einer Identitätskrise, sie vereinigte alle möglichen Schnitte in einer Buchstabenform. Barnbrook erkannte wie wichtig es ist, die historische Entwicklung der Buchstabenform zu beachten. Denn Grafikdesign soll schließlich die Kommunikation erleichtern.
Viele Menschen bringen ihre wahren Überzeugungen nicht in die Arbeit ein, so Barnbrook. Sein nächster Font, Prozac, bestand aus nur sechs Grundformen. Allerdings bestellen manchmal verwirrte Kunden das gleichnamige Medikament bei ihm und verlangen dann ihr Geld zurück.
Barnbrook wurde später vom radarabweisenden Stealth-Bomber und seiner zweckmässigen, bösen, pur funktionalen Form beeinflusst. Unsichtbare Form, aber starke Ästhetik, wie die Helvetica, so Barnbrook. Das Resultat, die Hopeless Diamond, war allerdings schwer lesbar. Es folgten die ebenfalls vom Militär beeinflussten Exocet und Tomahawk, basierend auf Lenkrakete und Marschflugkörper. Um die Schrift Mason gab es einen heftigen Disput, war sie doch ursprünglich nach dem Mörder von Polanskis Frau Sharon Tate, Charles Manson, benannt. Nach Protesten der Opferfamilien liess das Fontlabel Emigre das n fallen. Die Mason bleibt beliebt, auch Disney gestaltet DVD-Cover zum Beispiel für Schneewittchen, mit ihr. Was eine erstaunliche Karriere für einen Font ist, der ursprünglich von einem Serienkiller inspiriert war. Seine Schrift Tourette, benannt nach dem gleichnamigen Syndrom, bei welchem die Betroffenen Anfallsartig Schimpfwörter herausbrüllen, ist perfekt geeignet für dieses Zitat von Clockwork-Orange-Autor Anthony Burgess:

Fuck it,’ the fucking fuckers fucking fucked.

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Panel: Quo Vadis, Designprofession?

Michael Kubens (designenlassen.de) und Bastian Unterberg (jovoto.com), die zuvor ihre sehr unterschiedlich konzipierten Plattformen vorgestellt hatten, diskutierten im Panel mit Jörg Petruschat, Designtheoretiker und Herausgeber der Zeitschrift form + zweck, der sich in seinen letzten Arbeiten mit dem Wert kreativer Arbeit und dem Thema Ko-Kreativität auseinandergesetzt und die Grenzen des Crowdsourcing aufgezeigt hatte, sowie Torsten Stapelkamp, der dafür plädiert, dass Designer auch als Unternehmer und Berater auftreten sollten.

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