Chip Kidd 2009

Chip Kidd: B,IDKYL

Eine halbe Minute zu spät in der TYPOhall, die einzigen freien Plätze finden sich auf einer der Treppen oder in den Seitegängen. Die ersten Worte, die ich höre, sind “Penis” und “Erection”. Im Pogrammheft stand etwas von Buchcovergestaltung. Tja, alles anders: Chip Kidd, das dritte Mal auf der TYPO und der heiß ersehnte Speaker des Abends. Der Mann mit der Harry Potter-Nickelbrille schafft es, die Zuschauer innerhalb einer Stunde auf humoristische, selbstironische Weise in seinen Bann zu ziehen und ganz nebenbei die Bandbreite seines ganzen grafischen Könnens zu präsentieren.

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Ebon Heath: Das typographische Ballett

Ebon Heath schneidet gern Buchstaben aus, als Einsiedler in seinem stillen Kämmerlein. Seltener referiert er vor einem vollen Saal, aber es macht ihm sichtlich Spaß. Denn er freut sich, dass er seine Leidenschaft für die Typographie mit den Anwesenden teilen kann. Um zu verstehen, wie der junge Designer aus New York simple Buchstaben dreidimensional in einem Raum zu Leben erweckt und synästhetisch erfahrbar werden lässt, leitet er die mentalen Bilder seines kreativen Schaffens her.

Roger Black: Screen Fonts, Web Fonts

Die Gestaltung der Schriftarten beschäftigt den erfahrenen Editorial Designer Roger Black bereits seit seiner typografischen Arbeit für Rolling Stone Magazin und Newsweek. Mit dem Eintritt ins Internetzeitalter hoffte er, dass nicht die graphische Monotonie Einzug hält. Sollte das Web in Times New Roman stattfinden? Die anfängliche Erwartung der Gestalter an die Leser „They just want ro read“ ändert sich zum Glück kontinuierlich. In Zeiten der digitalen Lektüre auf Geräten wie dem Amazon Kindle und dem Sony Reader rückt der Texaner die digitale Umsetzung zur Darstellung der Schriftzeichen in den Fokus der Gestalter.

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John Downer: Sign Painters Play Tricks

Die kräftigen Farben setzen sich zu dem hellen Hintergrund im starken Kontrast deutlich ab. Ein hohes diffuses Spotlight wirft einen weichen wedge shade, der das beleuchtete Objekt erhaben erscheinen lässt und ihm die Illusion von Räumlichkeit verleiht. Die rote Krawatte von Schildermaler John Downer, die er über einer weißen Linotype.com-Arbeitsschürze trägt, ist bis in die letzten Reihen der TYPOhall gut erkennbar.

Mario Lombardo: The Charismatic Link

Sympathisch – auch der „Visual Leader of the Year 2008“ braucht etwas gegen die Aufregung. Und so hat Mario Lombardo ein kleines Gänseblümchen von seiner Tochter auf das Stehpult gelegt. Aufgeregt musste er aber gar nicht sein, denn das Publikum hatte er bereits vor der ersten Minute auf seiner Seite. Und es gab wirklich viel zu sehen. Angekündigt waren 600 Folien in 60 Minuten. Dazwischen wurden Einspieler gezeigt. Die Klickrate lag hin und wieder auf Trickfilmfrequenz. Ob die Videosequenz von dem Teamhund, der regelmäßig vor Projektabgaben erhöhte Aufmerksamkeit einfordert, notwendig war, mag dahingestellt sein.

Mario Lombardo wollte nicht nur seine Arbeiten präsentieren, seine Idee war es, die Zuschauer auf eine Reise mitzunehmen: in sein Studio, zu seinem Team, durch den gesamten Arbeitsprozess. Sei es der Kreativarbeitsplatz im ICE nach Bremen oder der im Zug nach Köln, das Bett, das Kölner BUREAU, gemeinsame Yogo-Übungen zum Entspannen oder ein Liegestütz-Wettbewerb im neuen Berliner Standort des BUREAU Mario Lombardo.

Neben dem Weg zum Ergebnis zeigte Lombardo Arbeiten, etwa aus der Zeit als Spex-Art Director, das Konzept und Impressionen für Liebling wurden vorgestellt, sowie diverse Cover für Sex- und Bollywood-Filme, Plakate, Booklets und Cover für die Band Fotos. Und immer zieht sich ein roter Faden durch alle Arbeiten: das analoge Gestalten, Bearbeiten von Gegenständen, Bilder werden zerschnitten und wieder zusammengeklebt und dann digitalisiert. Digitale Stärke durch analogen Anschnitt nennt Lombardo das, und es überzeugt. Ein weiteres wichtiges Zeichen ist das Dreieck, das für Mario Lombardo die Dreiteilung der Arbeit in Leidenschaft, Überzeugung und Intelligenz symbolisiert und z.B. im Liebling-Konzept immer wieder zu finden ist. Von einfacher Schönheit ist auch das Musikvideo, das für Scott Matthew kreiert wurde und fallende Laubblätter zeigt, die im Rhythmus der Musik vom Wind verwirbelt werden. Mit den Bildern aus dem Modeheft für das Berliner Stadtmagazin zitty erlaubt Mario Lombardo dem Publikum auch einen Einblick in ein neues Projekt.

Ob es wirklich alle 600 Folien waren, die Lombardo bot? In jedem Fall möchte ich mehr von diesem kreativen Team sehen!

Land Design Studio: Raumwerk

Zwei, die sich ergänzen – Jona Piehl und Peter Higgins vom Land Design Studio aus London. Sie harmonieren nicht nur perfekt beim ihrem Vortrag, sondern auch bei ihrer Arbeit. Sie ist Kommunikationsdesignerin, er Architekt – gemeinsam verbinden sie Objekte, Bilder, Sound und Raum zu einzigartigen Ausstellungen.

Museen sind Orte. Raum. Oft eigens zu ihrem Zweck erschaffen. Hier erzählen Piehl und Higgins ihre Geschichten und nutzen dafür recht unterschiedliche Kommunikationsstrategien. Filmbeispiele zu ihrer aktuellen Projekte zeigen den Einsatz verschiedener Medien: Text, Ton, Grafik, Fotografie, Film und Multimedia – immer auf die Austellungsobjekte abgestimmt. Sie erforschen ihre Zielgruppe genau und wissen daher, wie sie das Publikum in die Geschichten hineinziehen können. Partizipation und Interaktivität sind ihnen wichtig, um die Inhalte interessant zu vermitteln.

Dabei nutzen sie “The Power of the real: Real time, real space, real stories”. All dies kommt bei der Verbindung von Narration, Kommunikationsmedien und Architektur zusammen. Ihr Ziel ist es, den Geschichten eine Gestalt zu geben.

Ausgangspunkt sind dabei fünf grundlegende Fragen: Was ist die Geschichte? Warum erzählen wir sie? Wie erzählen wir sie? Für wen erzählen wir sie und besonders wichtig: wo erzählen wir sie? Das Publikum kann dabei ebenso divers sein wie die Örtlichkeiten. Kommen Experten in die Ausstellung oder Laien? Junge Menschen oder Ältere? Haben sie alltägliches Vorwissen über das Thema oder müssen sie grundlegend in die Thematik eingeführt werden? Ist das Gebäude modern oder älter? Oder tourt die Ausstellung gar durch unterschiedliche Locations? Alles Fragen, über die Piehl und Higgins die Dramaturgie für ihre Projekte entwickeln.

Exemplarisch beantworten die Designerin und der Architekt diese Fragen für die von ihnen entworfenen Ausstellungen zur britischen Musikgeschichte, Couture Mode in Paris und tropischen Gärten in Singapur. Bilder und Filme veranschaulichen ihre Arbeit: Schlagzeug spielende Museumsbesucher in London, interaktive Zeitleisten zur französischen Modegeschichte und umfangreiche Lagepläne des riesigen Ausstellungsgeländes in Südostasien. Da bekommt man Lust, sofort dorthin zu reisen!

Markus Hanzer – Real Space vs. Virtual Space

“There is no question that there is an unseen world”, sagt Woody Allen. Und Markus Hanzer macht sich auf die Suche nach der Matrix. Das Publikum nimmt er dabei mit auf eine Reise durch multiple Bilderwelten, auf der er munter vom Sündenfall zum X-Box-Helden hüpft, in Guantanamo und Abu Ghraib Halt macht und zwischendrin auch noch einen kurzen Stop bei der Coca-Cola-Blondine einlegt: Manchmal fast ein wenig schnell für den Zuhörer, dafür garantiert nicht langweilig.

Markus Hanzer hat sich viel vorgenommen in seiner Vortragsstunde, sucht er doch zwei so gar nicht irdische Dinge aufzustöbern: die Hölle und das Paradies. Da alles in unserem Denken automatisch einen bestimmten Ort zugewiesen bekomme, bestehe mittlerweile auch ein gewisser Konsens darüber, wie man sich das Unvorstellbare vorzustellen habe, meint Hanzer, greift dabei aber in eine eher unkonventionelle Bilderkiste: Lawinen, Sturmfluten und zusammenstürzende Gebäude symbolisieren das Fegefeuer, dazu gesellen sich Aliens, Monster und Verfolgungsjagden. Dem Gegenüber setzt er Fallschirmsprünge, Unterwasserwelten, Strandlandschaften und Supermärkte – und so manchen zwischenmenschlichen Genuss: Freunde, Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Himmlisch und höllisch sind dabei austauschbare Begriffe, denn das Elend des Einen kann das Glück des Anderen provozieren und andersherum. So sind wir also ständig umgeben vom Guten und Bösen, vom Echten und Unechten, sind mal Mittelpunkt, mal Peripherie, mal statisch, mal schnell… Hilfe! Dass mich diese Hybris aus Begriffen und Deutungen bloß nicht verschlingt!

 

Anna Mauersberger

Alejandro Paul: Der Kampf um den Augenblick

Zuerst wollte Alejandro Paul Ingenieurswissenschaften studieren. Doch nach einem Jahr zeigte sich, das war irgendwie nicht das Richtige ihn. Nach einem kurzen Abstecher ins Grafikdesign landete der Argentinier schließlich bei der Typographie. Und wenn man sieht, mit welcher Leidenschaft zur Schrift er heute seinen Vortrag auf der Typo Berlin hält, fragt man sich: Warum die Umwege? Aus diesem Mann konnte gar nichts anders werden als Typograph!

Paul berichtet von der Wirtschaftskrise 2000/01 in Argentinien. Krisen gibt es dort zwar öfter, sagt er, doch diese war maßgeblich für seinen Werdegang. Die Sparmaßnahmen trafen auch die Designer, sie mussten ihre Strategien der wirtschaftlichen Lage anpassen. Denn die erste Frage für einen Designer lautet nach Paul: “What kind of designer do you want to be and how will you survive?”. Wer in der Krise nicht untergehen wollte, musste eine Nische finden. Paul entdeckte seine im Supermarkt – Verpackungstypografie.

Das er sich in den Supermärkten dieser Welt umgesehen hat, beweist er uns anhand zahlreicher bunter Fotos – am Abend zuvor war er sogar extra noch in einem Berliner Laden. Jegliche Art von Produktverpackungen sind hier mit ihren Schriftzügen zu sehen: “Look, food for dogs and food for kids use the same font!”. Und genau an dieser Stelle setzt die Strategie des Designers an: Er möchte individuelle Schriften für bestimmte Produkte entwerfen. Die Typografie soll zur Verpackung passen, die Besonderheit des Produkts hervorheben, so sein Ansatz.

Inspiration für seine Types findet Paul auf vielerei Weise, wie die Bilder in seiner Präsentation zeigen. Produktverpackungen, Magazine, Ladenfronten, Pflanzen, Markenlogos und alte Bücher. Letztere liebt der Argentinier besonders, ja, er ist geradezu obsessiv vernarrt in alte Schriften. Gerne holt er sich aus Büchern der 30er und 40er Jahre Anregungen für seine Entwürfe – wie etwa dem Social Business Guide, einem Ratgeber für gutes Benehmen im Ledereinband.

Doch er will kein Revival der alten Klassiker. Vielmehr experimentiert er mit den Formen der Vergangenheit und passt sie mittels moderner Techniken der Gegenwart an. Ähnlichkeiten bleiben jedoch bestehen, wie sein Beispiel vergangener und aktueller Modeanzeigen zeigt: “Die Mädchen verändern sich, aber die Schrift funktioniert immer noch”.

Zwischenzeitlich fragt man sich, woher seine umfangreiche Fotosammlung stammt, durch die er sich so zügig klickt. Von Freunden und Bekannten aus aller Welt, erklärt Paul. Zur Inspiration schicken sie dem Designer interessante Schriftftzüge, die sie an den unterschiedlichsten Orten entdecken. Dabei freut sich der Typograph besonders, wenn er auf Bildern seine eigene Fonts gelungen umgesetzt sieht. Viele Leute würden ihm auch Bilder seiner Schriftzügen als Tattoos zu senden. So richtig scheint ihn die Umsetzung der Types auf ungewohntem Untergrund jedoch nicht zu überzeugen – vielleicht solle er als nächstes lieber eine eigene Tattoo-Typografie entwickeln? Wäre immerhin eine neue Nische für die argentinische Typographie.

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Gesche Joost – Research Rocks

Als Gesche Joost energisch durch das futuristisch anmutende Typo-Tor auf die Hall-Bühne stürmt, möchte man sie fast für eine ihrer eigenen Studentinnen halten: Jung wirkt sie und dynamisch, besser könnte sie ihr beeindruckendes Curriculum Vitae wohl kaum verkörpern. Gesche Joost leitet das Design Research Lab an den Deutschen Telekom Laboratories, ist bereits Juniorprofessorin und seit 2006 unter den “100 Köpfen von morgen”. Sie freut sich augenscheinlich wahnsinnig, auf der Typo Space zu sein: “Am liebsten würde ich jeden Tag damit beginnen, durch dieses Tor zu schreiten”, das sind ihre ersten Worte – spontan möchte man jetzt schon aus dem Publikum zurückrufen: Ach, Gesche, da wären wir dann gerne dabei!

Nomad: Form Follows Funk

Urban-Art und Graffiti-Künstler Nomad definierte und erklärte die häufig verwendeten Begriffe Graffiti und Urban Art, zeigte Differenzen und Parallelen beider Kunstformen auf und demonstrierte seine Ausführungen auch anhand praktischer Beispiele aus allen Ländern der Welt. Graffiti und Urban Art haben, so Nomad, vieles gemeinsam: Sie arbeiten mit Buchstaben und grafischen Elementen und dienen ihren Urhebern zur künstlerischen Selbstdarstellung und häufig auch als Appell an die Öffentlichkeit. Anders als von den meisten vermutet, stammt Graffiti ursprünglich nicht aus New York, sondern ursprünglich von einem Österreicher aus dem 18. Jahrhundert, der mit dem Ziel der Berühmtheit seinen Namen überall im Kaiserreich an Wände und Statuen schrieb. Ähnliche Versuche gab es in Philadelphia, wo ein verliebter junger Mann namens Konrad überall Liebeserklärungen an eine gewisse Cynthia hinterließ. Er fand viele Nachahmer, überraschenderweise schrieben diese jedoch nicht ihren eigenen Namen auf Wände und Säulen, sondern ebenfalls den Namenszug „Konrad“. Heute dagegen erfreuen sich Graffiti und Urban Art einer großen Variationsbandbreite und internationaler Beliebtheit. Nomad schloss seinen Beitrag mit Impressionen seiner eigenen Werke und auch Arbeiten anderer, zum Teil anonymer Künstler.

(Foto: Gerhard Kassner)

Realities United: realities : united

Jan und Tim Edler machen den Versuch, aufregende neue Objekte jenseits der üblichen Baukunst zu entwerfen. Ihr Ansatz ist die Verbindung von Kunst und Kommunikation in der modernen Architektur. Zu diesem Zweck fußen ihre Konzepte für die mediale Ausstattung von Gebäuden häufig auf der Verwendung von Pixeln, die in die Front der Objekte eingebaut werden, einzeln erhellt werden können und damit unterschiedliche Muster und auch Bewegtbilder erzeugen. Als Beispiele führten sie das Kunsthaus in Graz, einen Entwurf für eine Fassadengestaltung der europäischen Zentralbank und die Gestaltung eines „Urban Entertainment Centers“ in Asien an. Für Realities United ist Architektur damit ein expressives Medium, das Kommunikation mit Kunst verbindet.

(Foto: Gerhard Kassner)

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