„Mein … Moskau“ mit Helena Dell-Kolaschnik

Wo und wie wird Design gelebt? Wir haben Akteure aus der Designszene befragt. Auf unserem Blog stellen sie in loser Folge ihre Stadt und ihre Lieblingsorte vor. Diesmal: Helena Dell-Kolaschnik, die Designer Alexey Novichkov, Gayaneh Bagdasaryan, Olga Kalinkina, Peter Bankov, Daniil Bolschov sowie Designprofessor Axel Kolaschnik über ihre Favoriten in Moskau.

»Mein Moskau« klingt ziemlich seltsam – dennoch nehme ich die Aufgabe dankend an und gebe mein Bestes. Ich möchte hier jedem, der die Stadt besuchen möchte, Moskau schmackhaft machen. Dies ganz allein machen zu wollen, wäre angesichts der Größe und Bedeutung der Stadt vermessen. Daher habe ich einige Designer vor Ort gefragt, welches ihr Lieblingplatz in Moskau ist. Für deren Hilfe bedanke ich mich sehr!

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Zunächst: Russland ist das größte Land der Erde. Es ist 50-mal größer als Deutschland. Die Hauptstadt Moskau ist mit ihren mehr als 11,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas und Wirtschaftsmetropole Russlands, die wie zur Zaren- und zur Sowjet-Zeit nach wie vor auf Macht und Profit fokussiert ist. Ich möchte hier jedoch die Schönheit der mächtigen Stadt vorstellen. Und auch ihre interessanten Seiten. Denn eins ist klar – mit nur einem einzigen Besuch kann man diese Stadt nicht vollständig entdecken.

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Metro-Stationen Arbatskaja (eröffnet 1953, Architekten: L. Polyakov, V. Pelevin, Y. Zenkevich) und Taganskaja (eröffnet 1950, Architekten: K.Rushkov, A.Medvedev)

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Den ersten Eindruck bekommt man bereits, wenn man mit der Moskauer Metro (russ.: Московский метрополитен – U-Bahn) reist. 1935 eröffnet, gehören die Sationen (auch als unterirdische Paläste bekannt) zu den tiefsten Tunneln und Stationen der Welt. Alleine die prunkvollen Bahnhöfe sind es Wert, einen ganzen Tag bewundert zu werden. Aber Achtung: ohne fremde Hilfe können Rollstuhlfahrer die Metro nicht benutzen. Auch ohne Russischkentnisse kommt man nicht weit: bis vor Kurzem waren fast alle Stationen ausschlieslich auf Russisch beschriftet. 2013 hat das Designstudio ArtLebedev eine übersichtliche, international verständliche Karte für das Liniennetz gestaltet. Nach und nach werden auch die Beschriftungen in den Stationen angepasst. Übrigens: Wer die Metrostation »Platz der Revolution« (russ.: Площадь Революции) besucht, sollte unbedingt eine Hundeschnauze finden – und an ihr reiben. Unter all den Bronzestatuen von Arbeitern, Bauern, Soldaten mit Waffen ist sie ganz leicht zu finden: sie ist bereits bestens poliert. Früher machten das nur die Studenten vor ihrem Examen (es sollte Glück bringen). Jetzt macht es jeder, der sein Glück noch nicht gefunden hat. Kein Wunder, dass sie so blank ist. Wer mehr über die Geschichte und Entstehung der Metro wissen will, kann auch geführte Touren buchen.


Kasaner Kathedrale am Roten Platz
Der seit 1990 zum UNESCO-Welterbe gehörige Platz befindet sich mitten in der historischen Altstadt. Hier sind viele Wahrzeichen Moskaus versammelt: der Kreml, die Kathedrale des seligen Basilius (russ.: Храм Василия Блаженного), das Lenin-Mausoleum, das Warenhaus GUM. Mein Favorit ist die Kasaner Kathedrale, sie ist zwar ein Nachbau, jedoch, wie ich finde, sehr authentisch.

Roter Platz bei Nacht. Kath. des seligen Basilius (links) und die Mauer des Kremls mit dem Erlöser-Torturm (rechts)

Roter Platz bei Nacht. Kath. des seligen Basilius (li.), Mauer des Kremls mit dem Erlöser-Torturm (re.)

Man kann fast jede Kirche besuchen. Dabei sollte man eine kleine Regel respektieren: Männer gehen ohne Kopfbedeckung in die Kirche, die Frauen sollten den Kopf mit einem Schal/Tuch bedecken.

Charakteristisch ist die Form der Begrenzung zur Kath. des seligen Basilius (links) wie auch den Mauern des Kremls (rechts, ursprünglich zum Positionieren von Artilleriegeschützen gedacht)
Charakteristisch ist die Form der Begrenzung zur Kath. des seligen Basilius (li.) wie auch den Mauern des Kremls.

Die Form wird gerne als »M« (für Moskau) aufgegrifen, z. B. hier als Logo des Moskauers Banks. Mehr zum Rebranding-Projekt der Moskauer Bank findet man direkt auf der Seite des FrontDesigns.
Die Form wird gerne als »M« (für Moskau) aufgegriffen, z. B. hier als Logo der Moskauer Bank

Moskau hat rund 100 Parks. Der »Gorki-Park für Kultur und Erholung«, der im Zentrum der Stadt am Fluß Moskwa liegt, ist wohl einer der bekanntesten. Gegenüber vom Gorki-Park liegt das »Zentrale Haus der Künstler«, in dem schon seit Jahren die Internationale Plakat-Ausstellung »Golden Bee« stattfindet.

Ein typisches Wohnhaus mit einer orthodoxen Kirche davor
Typisches Wohnhaus mit orthodoxen Kirche.

»Golden Bee 10«
»Golden Bee 10«

Mein Persönlicher Favorit ist das Staatliche Historisch-Architektonische Kunst- und Landschaft Museum »Zarizyno«, welches sich im Süden von Moskau befindet. Das gesamte Gebiet des Parks nimmt 405 Hektar ein. Immer wieder treibt mir die Aussage »Katharina II wollte dort so authentisch wie das Volk leben« ein Schmunzeln ins Gesicht.

Der Zarizyno-Schlosspark befindet sich im Süden der russischen Hauptstadt Moskau etwa 18 km vom Stadtzentrum entfernt (Foto: © Zarizyno-Schlosspark)
Zarizyno-Schlosspark im Süden der russischen Hauptstadt (Foto: © Zarizyno-Schlosspark)

Alexey Novichkov

Neben den kulturellen Clustern gibt es eine ganz andere Realität, zu der ich mich hingezogen fühle: der Park von Kuskowo, der sich in der Nähe von meiner Wohnung befindet. Ich bin dort gerne mit meinen Verwandten oder auch allein, sobald etwas Freizeit zur Verfügung steht. Der Park von Kuskovo in Kombination mit dem danebenliegenden Sportpark »Regenbogen« – das sind Orte, die die Norm in städtischen Gebieten sein sollten. Es gibt unzählige Museen und Galerien in der Stadt. Ausländische Touristen zahlen meist das Dreifache des Eintrittspreises der russischen Bürger.

Park von Kuskowo im Osten der Stadt – ein Schlosspark, teilweise im englischen und französischen Stil errichtet (Foto: © Park von Kuskowo)
Park von Kuskowo im Osten der Stadt im englischen und französischen Stil (Foto: © Park von Kuskowo)

Gayaneh Bagdasaryan

Normalerweise besuchen Touristen das Hauptgebäude der Tretjakow-Galerie. Nicht jeder weiß, dass die Galerie eine neue Filiale mit einer atemberaubenden Ausstellung von russischer und sowjetischer Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts in Krymsky Val eröffnet hat. Die Ausstellung besteht ausschließlich aus Meisterwerken – und es gibt kaum Besucher in den Hallen. Malewitsch, Kandinsky, Tatlin, Larionov, Gontscharowa und viele andere Künstler der Blütezeit der frühen Kunst-Epoche des zwanzigsten Jahrhunderts, versammelt an einem Ort. Man kann mehrmals hierher kommen und immer etwas Neues entdecken.

Olga Kalinkina

Ein in Form und auch vom Inhalt her eigenartiges Museum ist das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz. Es ist ein einzigartiger Ort in Moskau, eine Kombination von modernem wissenschaftlichem Museum, moderner Technik und einem Spiel-Center – mit einem anderem Wort: Edutainment. Deswegen komme ich auch gerne hierher. Ausstellungen, Vorträge, Konzerte und Filmvorführungen – alles ist interessant, vielschichtig, mehrdeutig, wie auch das jüdische Volk selbst. Ein weiterer wichtiger Teil des Museums ist das Zentrum der Avantgarde. Für die Liebhaber von Kultur und Kunst von 1910 bis 1930 Jahren ist es wunderbar. Einzigartige Materialien werden in regelmäßigen Abständen ausgestellt. Die Bibliothek, mit einer guten Auswahl an Bücher und Medien der Avantgarde, ist ständig verfügbar. Ja, die russische Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts setzte Impulse, zündete Ideen, die uns Designer heute noch prägen – oder uns zumindest als fundierte Grundlage dienen. Ihre Spuren sind immer noch in der russischen Hauptstadt zu finden.

Peter Bankov

Stadt der Künstler, denkmalgeschützter Architekturkomplex im Nordwesten Moskaus
Stadt der Künstler, denkmalgeschützter Architekturkomplex im Nordwesten Moskaus
Verchnjaa Maslovka in Moskau – die konstruktivistische Stadt der konstruktivistischen Künstler. Das Projekt wurde in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts konzipiert und begonnen. Dort lebten mehr als 2000 Künstler und Bildhauer.

Daniil Bolschov

Ich mag meinen Kiez, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist das Zentrum von Moskau (U-Bahn Sationen Belorusskaja und Dinamo). Es ist ein interessanter historischer Teil der Stadt, der nicht zuletzt meine Berufswahl beeinflusste. Hier sind einzigartige architektonische Meisterwerke der verschiedenen Zeiten versammelt – vom Russischen Reich bis zur Sowjetunion. Sie sind angefüllt mit Geschichte und bedeutenden Ereignissen. In der Straße Raskovoj (ул. Расковой) befindet sich das legendäre Restaurant »Yar« (Яръ) welches bereits im 19. Jahrhundert errichtet wurde. In ihm waren die Reichen und der ganze Adel des zaristischen Russlands (u.a. Rasputin, Tschechow, Schaljapin und viele andere) Stammgäste. Hier kann man die echte russische Küche genießen.

Restaurant »Yar«
Restaurant »Yar«
Gegenüber vom »Yar« befindet sich das architektonische Meisterwerk Moskauer Hippodrom, ein Gebäude von atemberaubende Schönheit, in dem die Stile des »Stalinistisches Empire« und der vorrevolutionären Klassik vereint sind. Dort werden immer noch Pferderennen veranstaltet.

Sehenswert ist auch der Sportkomplex »Dynamo« mit Petrovsky Park und seiner architektonischen Perle, dem Petrovsky Palast aus dem 18. Jahrhundert. Napoleon Bonaparte residierte hier, als er nach Moskau kam. Der Palast ist für die Öffentlichkeit zugänglich und dient heute als Museum.

Interessante Bauten des Sowjetrusslands der 20er und 30er Jahre, im Stil des Konstruktivismus sind hier ebenfalls zu finden.

Hippodrom
Hippodrom
Neben den spannenden Objekten die durch und durch mit Geschichte durchtränkt sind, finde ich persönlich die neuen, gerade entstehenden, meist improvisierten Kultur- und Kreativzentren am spannendsten. Eines davon ist das Zentrum für Zeitgenössische Kunst »Winzavod« (russ.: Винзавод), eine ehemalige Weinfabrik, nun eine Mischung aus Gallerien, Agenturen, Restaurants, Shops und Ausstellungsflächen. Ein anderes Kreativzentrum ist die Designfabrik »Flacon«.

Zentrum für zeitgenössische Kunst »Winzavod«
Zentrum für zeitgenössische Kunst »Winzavod«

Über 150 Jahre war die   Kristallglasfabrik Russlands erste Parfümfabrik zuständig. Im Jahre 2009 wurde »Flacon« in eine »Design-Fabrik« mit dem Schwerpunkt Kreativwirtschaft umgewandelt.
Über 150 Jahre war die Kristallglasfabrik Russlands erste Parfümfabrik zuständig. Im Jahre 2009 wurde »Flacon« in eine »Design-Fabrik« mit dem Schwerpunkt Kreativwirtschaft umgewandelt.

Alexey Novichkov

»Roter Oktober« (russ.: Красный Октябрь) ist eine ehemalige Schokoladenfabrik, nun als Kreativzentrum in Betrieb

Die ehemalige Schokoladenfabrik »Roter Oktober« (russ.: Красный Октябрь) ist nun ein Kreativzentrum

Wenn man mich nach einem Lieblingsplatz in Moskau fragt, dann kann ich wohl zwei Standorte nennen, zu denen ich mich immer hingezogen fühle – »Artplay« und »Krasny Oktjabr« (auch bekannt als »Strelka«). Ich kann nicht behaupten, dass ich oft dort bin, aber jedes Mal, wenn ich da bin, empfinde ich das Gefühl, auf der anderen Seite des Spiegels zu stehen. Die tägliche Realität ist so anders als die Atmosphäre, die dort schwebt. Wenn ich dort bin, denke ich oft: »So wie hier! So soll es sein!«. Das einzige, was mich verlegen macht, ist, dass diese Orte so sehr im Industriebereich oder in der Innenstadt sind. Wünschenswert wäre eine Kombination von Natur, harmonische Landschaft, gemischt mit dem kulturellen Raum. Vielleicht gibt es in Moskau tatsächlich solche Orte. Aber ich habe sie noch nicht entdeckt.

Prof. Axel Kolaschnik

Helena Dell-Kolaschnik: Man sagt ja, um die eigene Stadt neu zu entdecken, sollte man sie mit einem Gast (besser noch, einem Ausländer) besichtigen. In meinem Fall war es einfach: ich nahm meinen Mann mit.
Moskau ist überwältigend – so war der Plan. Alles in der Stadt war und ist darauf ausgerichtet, zu beeindrucken. Alles wirkt zielgerichtet auf eine pure Machtdemonstration hin. Mein Lieblingsplatz in Moskau ist ein Planungsfehler in dieser Logik: Steht man hoch über dem Fluß Moskwa auf der Fußgängerbrücke namens Patriarchen-Brücke (russ.: Патриарший мост), so blickt man direkt auf die Christ-Erlöser-Kathedrale (russ.: Храм Христа Спасителя). Sie ist das 2004 eröffnete Machtzentrum der erstarkten Russisch-Orthodoxen Kirche. Rechts der Brücke steht in stolzer Pracht der Kreml – das Zentrum der weltlichen Macht Russlands.

Christ-Erlöser-Kathedrale, Kreml bei Nacht, »Roter Oktober« bei Nacht
Christ-Erlöser-Kathedrale, Kreml bei Nacht, »Roter Oktober« bei Nacht

Links der Brücke, am gegenüber liegenden Ufer der Moskwa keimt informell und hoffnungsvoll eine Art Gegenmacht – und das gleich doppelt. Von hier aus sieht man das »Strelka Institute for Media, Architecture and Design« und das Kultur- und Kreativ-Zentrum »Roter Oktober«. So zwingt eine Fussgängerbrücke die ungeplante, ungewollte Dreifaltigkeit der religiösen, weltlichen und kreativen Macht Russlands dazu, miteinander in Verbindung zu treten.

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Wir sind mit dieser Tour nun am Ende. Hoffentlich habt Ihr einen guten Eindruck von Moskau erhalten und möchten noch mehr und möglichst mit eigenen Augen sehen. Denn es gibt dort noch so viel zu entdecken!

Text — Helena Dell-Kolaschnik